9
Apr
2016

Am Bärensee

Als Kind bin ich nicht gerne an den Bärensee gegangen. Erstens musste man ewig und drei Tage lang durch den Wald radeln, um überhaupt hinzukommen. Und zweitens traf man dort nie einen interessanten Menschen. Meine Freunde, meine Schulkameraden, die bevorzugten allesamt das leichter erreichbare Freibad bei uns im Ort.

Deshalb hab’ ich eigentlich auch keine Idee zum Bärensee. Meine Brüder und ich mussten bisweilen mit dorthin kommen, wenn Familienbaden angesagt war, am Sonntagnachmittag. Das bedeutete meistens Langeweile pur. Wir waren nämlich viel lieber auf eigene Faust unterwegs. „Pass auf, dass du keinen Sand auf die Decke trägst!“, viel mehr war normalerweise nicht, wenn die Alten dabei waren. Bestenfalls durften wir uns in dem kleinen Laden ein Fix-und-Foxi- Heft kaufen, um das wir uns anschließend stritten, und mit dem man sich wenigstens für eine halbe Stunde die Zeit vertrieben hat. Einfach öde. Die meisten Leute, die an den Bärensee kamen, waren sowieso nicht aus unserem Ort, weil der Bärensee ziemlich weit abseits liegt, und ungefähr 80 Prozent der Besucher waren darüber hinaus Amerikaner, in der Nähe stationierte Soldaten, und von all denen kannten wir nun mal keinen.

Aber halt.

Von wegen Amerikaner.

Einmal war ja doch was passiert.

Es hatte sich nämlich eines Sonntags die Nachricht verbreitet, dass im Bärensee ein Amerikaner ertrunken sei. Das eigentliche Ereignis hatte sich wahrscheinlich schon am Vortag oder in der Vorwoche begeben, aber unter uns Buben hielt sich mit einer wahrscheinlich aus der allgegenwärtigen Langeweile heraus geborenen Hartnäckigkeit das Gerücht, dass der Amerikaner immer noch nicht aufgefunden worden sei und also noch irgendwo da draußen im Wasser umher treibe (um es präziser zu formulieren - ich stellte mir dabei vor, daß er unter Wasser treibe).

Und wir entwickelten die Vermutung, dass man von offizieller Seite her bestrebt war, den Vorfall geheimzuhalten.

Jedes DLRG-Boot, das über den See fuhr, verdächtigten wir fortan, als verdeckte Patrouille unterwegs zu sein. Die DLRG’ler suchten nach unserer Ansicht immer noch den ganzen See nach dem ertrunkenen Amerikaner ab, ohne die Badegäste zu informieren. Man wollte wahrscheinlich ein allgemeines Aufsehen vermeiden. So jedenfalls unsere Theorie. Wahrscheinlich wollten sie verhindern, dass die Leute ihre Sachen packen und nach Hause gehen, weil niemand gerne beim Schwimmen einer Wasserleiche begegnen will. Die plötzlich vor ihm auftaucht und den bereits grün gefärbten Mund aufmacht. Vielleicht sollte auch kein Anlaß dafür gegeben werden, dass der gesamte Bärensee von der MP* abgeriegelt würde.

Und womöglich war der Amerikaner ja auch nicht einfach ertrunken, sondern ermordet worden? In dem Fall waren hier alle verdächtig, schlossen wir messerscharf. Endlich wäre also mal was los gewesen am Bärensee.

An diesem Tag vermied ich es, in den Bärensee hinauszuschwimmen. Ich blieb lieber im Nichtschwimmerbereich. Nicht mal mit der Luftmatratze überquerte ich mehr die Absperrleine. Das Problem mit dem braun-trüben Bärenseewasser ist nämlich schon immer gewesen, dass man dort nicht besonders gut in die Tiefe hinuntergucken kann. Jeden Moment hätte man also, wenn man im See schwamm, mit dem Fuß an einem unbestimmten Etwas entlangstreifen können, welches sich hernach als der ertrunkene Amerikaner hätte herausstellen können.

Und stocherten die DLRG-Leute dort hinten nicht gerade schon wieder im Wasser herum, immer noch auf der Suche nach der Wasserleiche, deren Existenz sie uns nicht eingestehen wollten?

Wir blieben also misstrauisch. Ich ließ mir von meinem jüngeren Bruder jede noch so kleine verdächtige Veränderung im Verhalten der DLRG-Leute berichten. Mal fuhren sie mit zwei Booten gleichzeitig raus, mal versammelten sie sich in auffälliger Weise an ihrem Bootssteg und diskutierten über irgendwas.

Sie benahmen sich verdächtig, kein Zweifel.

Wir beschlossen irgendwann, auf eigene Faust zu handeln, und begannen damit, entlang dem damals wild belassenen Ufer, welches an der dem DLRG-Haus gegenüberliegenden Seite des Bärensees verlief, unsere eigenen Nachforschungen anzustellen. Hier, wo Baumwurzeln und Sträucher in das Wasser ragten, hätte eine Wasserleiche angeschwemmt worden sein können. Und sie könnte dort sogar eine Zeitlang unentdeckt geblieben sein, so kalkulierten wir messerscharf.

Wir suchten also am Ufer herum. Wir stiegen zwischen toten Ästen und Gesträuch herum, stocherten mal hier, mal da im Wasser. Alles in allem: umsonst. Die mutmaßliche Wasserleiche konnten wir nicht entdecken.

Aber immerhin stießen wir irgendwann auf ein verdächtiges Päckchen. Auf einen Schuhkarton, der halb im Wasser lag und auffällig verschnürt war. Ordentlich, mehrfach kreuzweise, mit dicker Kordel fest verpackt.

Wer warf solch ein übertrieben verschnürtes Paket ins Wasser? Dieses Objekt mussten wir natürlich genauer in Augenschein nehmen.

Wir zerrten und schoben das tratschnasse und völlig durchweichte Paket mit langen Stecken aus dem Nass heraus und kratzten dann mit den Stöcken die durchnässte Pappe weg, so dass wir den Inhalt bald erkennen konnten. Das Objekt direkt mit den Händen anzufassen, trauten wir uns nicht, und ich war hernach auch froh, dass wir’s nicht gemacht haben, kann ich Ihnen sagen.

Als wir die Pappe entfernten, war zunächst etwas schwarzweißfarbenes, irgendwie weich Anmutendes zu erkennen. Und als wir die Hülle fast vollkommen auf- und weggerissen hatten, konnten wir endlich feststellen, dass es sich bei dem seltsamen Material um tierisches Fell handelte. In dem Kasten, den wir nun fast vollständig entfernt hatten, hatte sich, wie wir erkannten, eine tote Katze befunden, die nun schlaff und irgendwie verdreht zwischen den übriggebliebenen Schnüren vor uns lag.

Der Anblick widerte uns so an, dass wir das klägliche Bündel einfach liegen ließen und uns auf den Weg zurück zu unserem Lagerplatz machten.

Mein Bruder sprach auf unserem Rückweg das aus, worüber ich gerade begonnen hatte, nachzugrübeln: „Meinst du, die war schon tot, als die ins Wasser geworfen worden ist?“

„Klar war die schon tot!“ antwortete ich. Ein bisschen zu schnell, denn ich wollte mit ihm nicht darüber sprechen.

Irgendwie fand ich, dass mein kleiner Bruder für Gedanken über die Praktiken eines Tierquälers noch nicht alt genug war.

Warum einer ein Paket mit einer toten Katze darin so fest und akkurat verschnürt, die Frage habe ich noch eine ganze Weile mit mir herumgetragen. Ich meine, wie würden Sie denn eine tote Katze entsorgen? Ich vermute mal, dass Sie sich schon mal nicht die Mühe machen würden, sie ausgerechnet bis zum nächsten Badesee zu bringen. Wenn Sie sie schon loswerden wollten, dann gäbe es doch sicher andere, näherliegende Möglichkeiten, als ausgerechnet einen Badesee, oder? Und wahrscheinlich würde es auch keinen Grund dafür geben, ein totes Tier so fest, doppelt und dreifach einzuschnüren, als bestünde die Gefahr, dass es noch mal heraushüpft aus seinem Pappsarg.

Außer, es bestünde tatsächlich die Möglichkeit, dass das Vieh noch mal entfleuchen könnte.

Verstehen Sie, was ich meine?

So jedenfalls dachte ich damals über unseren Fund.

Irgendwie war mir nach unserer Entdeckung die Laune auf weitere Inspektionen bezüglich der Angelegenheit mit dem toten Amerikaner vergangen. Und auch später habe ich mich nie mehr besonders für den Bärensee erwärmen können. Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, warum. Ich glaube, es fehlt mir dort einfach der Grad an Wildheit, den ich von einem See erwarte. Ein paar Buchten, große Bäume drumherum, weitläufige Liegewiesen. Freiraum. Es gibt dort auch zu viele Jägerzäune, wegen der vielen Dauercamper mit ihren winzigen Grundstücken. Und in den Bärensee hinaus zu schwimmen, so richtig lange darin zu schwimmen, das habe ich auch als Erwachsener nie mehr so richtig fertiggebracht. Es fehlt mir dort einfach die rechte Lust dazu. An anderen Seen habe ich diesbezüglich keinerlei Hemmungen, wirklich nicht. Wir gehen heutzutage, wenn Sommer ist, entweder ins Freibad. Oder eben an einen weiter entfernten, wesentlich größeren See, den wir in den letzten Jahren für uns entdeckt und richtig lieb gewonnen haben, mit grün schimmerndem, dennoch klarem Wasser. Dort finden Sie mich dann, wenn ich nicht auf der Badedecke weile, weit hinter der Absperrleine, wo nur wenige hinkommen.

Die meisten Leute, die man normalerweise am Badesee trifft, schwimmen nur selten weit hinaus. Die meisten bleiben lieber in der Nähe des Ufers. Achten Sie mal drauf.

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