Geschichten

DER PROZESS. Eine Karl-May-Geschichte

Ich war auf meinem Weg zurück in die Heimat in einem kleinen Nest angelangt, welches den ehrwürdigen Namen "Niederissigheim" trug, und welches auf mich wie auch auf meinen treuen Begleiter Sam einen durchaus einladenden Eindruck machte. Die Sonne senkte sich gerade dem Westen zu, und so beschlossen wir, die Nacht in dieser recht einladend anmutenden Örtlichkeit zu verbringen.

Drei Bauernburschen, die am Rande eines Feldweges in die sinnvolle Beschäftigung vertieft waren, sich wechselseitig einen alten Wurzelknollen mit dem Fuße zuzukicken, befragten wir nach einer passablen Herberge. Wir bekamen von einem der drei, der uns mit verschmitztem und bäuerlich wettergegerbten Gesicht ansah, eine für die hiesigen ländlichen Verhältnisse wohl als höflich einzustufende Antwort, die uns darüber hinaus neugierig machen musste.

"Die beste Herberge am Platz ist das ’Zur Stadt Hanau’, mein Herr. Das muss euch aber natürlich noch nichts bedeuten, da es ja auch die einzige Herberge weit und breit ist. Werdet aber jedenfalls dort zwei deftige Abendessen und zwei feste Matratzen bekommen, sofern ihr so ehrlich zu zahlen gewillt seid, wie es unter deutschen Leuten der Brauch ist."

Er dachte noch kurz nach und fügte hinzu: "Habt jedoch ein bisschen Geduld mit den Leuten dort. In der Gaststube hält nämlich am heutigen Abend der Dorfschulze wieder einmal seinen Gerichtstag. Und nach einem solchen Ereignis geht es dann für gewöhnlich immer noch recht lange bis in die Nacht hinein, mit dem Biertrinken wie mit dem Maulaffenfeilhalten!"

Mein alter Sam antwortete: "Will heißen, in eurem Dorf mangelt es also weder an Gastfreundlichkeit noch an Gerichtsbarkeit, wie unter ehrbaren Leuten üblich. Das lobe ich mir. Und worum geht es denn bei der Gerichtsverhandlung genau, wenn ich mich nicht irre?"

Die Leser meiner früheren Reiseerzählungen werden in meinem Begleiter den alten Sam Hawkens wiedererkennen (1), welcher mit mir allerdings derzeit unter seinem richtigen Namen Samuel Falke in unserer guten alten deutschen Heimat unterwegs war. Für unsere weite Reise über den Ozean, heraus aus den geliebten nordamerikanischen Savannen und Prairien des ewigen Westens, hinüber in das geliebte alte Europa, hatte mein alter Sam seinen Jagdrock gegen einen festen Reiseanzug aus englischem Tweed eingetauscht, was ihn für seine Verhältnisse recht mondän aussehen liess. Von dem alten Westmann mit der abgenutzten Lederkleidung, der er ja eigentlich war, konnte man augenblicklich nicht viel an ihm bemerken.

Auf drei Dinge hatte mein alter Sam jedoch auch für diese weite Reise unter keinen Umständen verzichten wollen: es war dies zum einen seine Pfeife, die eher wie ein zerkauter Holzstummel aussah und in der für gewöhnlich ein Kraut zur Verbrennung kam, das die Mücken auf 40 Fuß im Umkreis zu vertreiben in der Lage war. Dann auf seine Perücke, die stets seinen einst von Indianern skalpierten Schädel zu bedecken pflegte, und die eigens für die Reise ins alte Europa einer gründlichen Wäsche samt Frisur unterzogen worden war. Und natürlich auf seinen alten Schießprügel, welchen er zärtlich mit "Liddy" zu titulieren pflegte, und der für gewöhnlich für ein knorriges Aststück gehalten wurde. In den Händen des alten Sam gab seine "Liddy" allerdings ein gar treffsicheres Gewehr ab, das uns schon aus so mancher aussichtslosen Lage herausgehauen hatte.

Einer der Bauernburschen antwortete nun meinem Sam: "Haben wieder mal zwei Oberissigheimer Spitzbuben eingefangen, die sich an unser Eigentum heranmachen wollten. Sind beim Spionieren erwischt worden. Haben sich zu dumm angestellt dabei, die Halunken. Ein paar Riemen waren da schnell zur Hand, und also hat man sie rasch zusammengebunden und ins 'Stadt Hanau' hineingeschafft. Heute abend ist Gerichtsverhandlung."

Das klang allerdings stark. Hier sollte also wohl ein Prozess gehalten werden, so ganz nach der Art des Wilden Westens. Das Schauspiel wollten wir uns natürlich ansehen, zumal die Sache uns zweifelhaft ankam. So lenkten wir unsere Pferde in das schöne Niederissigheim hinein.

Im "Zur Stadt Hanau" angelangt, handelten wir mit dem Gastwirt einen ordentlichen Preis aus, quartierten uns ein und fanden in der Tat recht passable Nachtlager vor. Als wir am Abend dann den Gastraum betraten, staunten wir allerdings nicht schlecht über den Andrang, der hier herrschte: Dort hatten sich inzwischen die Männer des Dorfes versammelt, und mitten im Raum lagen zwei männliche Gestalten, zwei noch recht junge Kerle, fest verschnürt auf dem Boden.

"Zounds!" - raunte mir der alte Sam zu. "Schätze, die Lage hier ist ernster als gedacht. Werden uns die saubere Gerichtsbarkeit jetzt aus der Nähe besehen und überprüfen müssen, ob in diesem Nest der Stecken nicht am Ende ganz und gar verkehrt herum den Fluss hinabschwimmt (2), nicht wahr, Ihr altes Greenhorn, wenn ich mich nicht irre. Hihihihi!"

Es war in der Tat seltsam, dass hier ganz ohne jede schutzpolizeiliche Anwesenheit zwei Gefangene festgehalten wurden. Das ließ auf eigenartige Sitten schließen, und so musste es uns geraten sein, wachsam zu bleiben. Wir ließen uns an einem der wenigen noch freien, grob gezimmerten Holztische nieder und bekamen sogleich ein gutes Bier der Marke "Nikolay" serviert.

Am Tresen war uns schon beim Hereinkommen ein hühnenhafter Mann aufgefallen, der dort jedenfalls gegenüber den Umstehenden das große Wort zu führen schien, und der sich gerade eben zu den Anwesenden im Gastraum umdrehte und seinen Bierkrug hob. Jetzt konnten wir sehen, dass aus seinen Augen die Schläue und Wachtsamkeit eines Mannes blitzte, der jedenfalls gewohnt war, den Leuten stets dasjenige X für ein U vorzumachen, welches ihm am meisten Vorteil zu versprechen schien. Nachdem er aus seinem Krug noch einmal einen gewaltigen Schluck getan hatte, wischte er sich den Schaum vom Bart und sprach mit lauter, tiefer Stimme in das Gasthaus hinein:

"Es ist aus den Hütten der Oberissigheimer Bauern ein Gestank aufgestiegen, welcher bis in unsere Gemarkung geweht worden ist, und der die fleißigen Bürger von Niederissigheim beleidigt hat."

Bei diesen Worten hatten sich alle Köpfe dem Sprecher zugewendet, und man sah nun aufmerksam auf diesen Mann, bei dem es sich jedenfalls um den bereits erwähnten Dorfschulzen handeln musste. Offensichtlich war er gerade dabei, die angekündigte "Gerichtsverhandlung" ins Werk zu setzen.

Er ließ eine kurze Pause verstreichen und sprach dann weiter: "Zwei Oberissigheimer Spitzbuben haben es gewagt, unsere saubere Niederissigheimer Gemarkung zu betreten in der Absicht, Ungelegenheiten gegen unser Niederissigheim vorzubereiten!"

Nun ertönte ringsum ein deutlich vernehmbares "Uff! Uff! Uff! Uff! Uff!" aus allen Kehlen. Ich sah erstaunt zu Sam herüber. War das möglich? Hatte ich mich verhört? Sam schaute jedenfalls ebenso ungläubig drein, wie auch ich ihm in diesem Moment erschienen sein musste. Die zustimmenden Laute glichen doch wohl in Klang und Ton den Rufen der Prairieindianer, wie gerade wir alten Westleute sie schon tausendmal vernommen hatten, ob am Ufer des Pecos aus den Kehlen hunderter Apatschen oder auch aus Komantschen-, Ogellallah- oder Kiowa-Mund. Der Ausdruck "Uff!" bedeutete bei den Indianern so viel wie "Jawohl!" und "Basta!", und er war mir jedenfalls noch nie und niemals in meinem eigenen Heimatlande begegnet, so viel war sicher.

Der Dorfschulze sprach weiter: "Die Oberissigheimer Hundemeute, zu der die beiden hier vor uns liegenden Schurken jedenfalls gehören, hat im vergangenen Herbst mehrmals des Nachts auf unseren Kartoffeläckern die Erdfrüchte gestohlen und sich dabei so rücksichtslos gebärdet wie die Schwarzkittel. Ist es so?" – "Uff! Uff! Uff! Uff! Uff!" ertönte es wiederum zustimmend von ringsumher. Es bestand nun kein Zweifel mehr. Wir hatten uns nicht verhört. Diese braven Niederissigheimer Bauersleute mussten irgendwann in den Genuss meiner Reiseerzählungen aus dem Wilden Westen gekommen sein, soviel stand für mich fest. Und Sam raunte halblaut zu mir herüber: "Bounce! - Gibt wohl im schönen Deutschland mehr Leser eurer Greenhorn-Bücher, als Ihr es je habt vermuten können da drüben im Westen, wenn ich mich nicht irre! Hihihihi!"

Der Dorfschulze aber fuhr fort: "Und haben nicht solche Schlammbauernbuben, wie sie aus den Oberissigheimer Hütten stammen, bei der letzten Kerb zu Bruchköbel versucht, mit Mädels aus Niederissigheim anzubandeln? Ist es so?" - "Uff! Uff! Uff! Uff! Uff!" – die Rufe klangen jetzt energischer, ungehaltener. Einer der auf dem Boden liegenden Gefangenen drehte nun den Kopf so gut es ging in die Richtung des Dorfschulzen und rief: "’s stimmt gar net, Herr, `s war grad genau umgekehrt!"

"Schweig, Hund!" herrschte ihn der Dorfschulze an. "Die Bürger von Niederissigheim sind es nicht gewohnt, dass der Dorfköter kläfft, wenn sie tagen! Du redest nur dann, wenn du gefragt wirst, verstanden!" – Die Anwesenden verfielen erneut in ein zustimmendes, energisches "Uff! Uff! Uff! Uff! Uff!", und ich blickte sorgenvoll zu Sam herüber.

Der Dorfschulze sprach erneut: "Wiewohl wir Männer hier jedes Recht der Welt hätten, Halunken wie euch sofort teeren und federn zu lassen, ohne noch lange zu warten, und euch dann die Straße hinauf dorthin zu jagen, wo ihr herkommt, nämlich zurück in eure Oberissigheimer Ställe, so soll doch Gelegenheit zur Widerrede gewährt sein. Hat jemand hier einen Vorschlag, was mit diesen beiden Stromern geschehen soll?"

Die angebliche "Widerrede" sollte also wohl darin bestehen, dass irgendeiner aus der durch Bier und wüste Rede aufgeheizten Zuhörerschar einen Vorschlag für eine möglichst unterhaltsame Bestrafung der beiden Delinquenten machen sollte, deren sie betreffende "Anklage" mir allerdings zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht einmal eindeutig beschrieben schien, und denen noch nicht einmal eine Rede zur eigenen Verteidigung erlaubt sein sollte.

Ich konnte nun nicht mehr länger zögern, denn hier musste eingegriffen werden, und so erhob ich das Wort:

"Werter Herr Dorfschulze, obwohl wir nur durchreisende Fremdlinge sind, so möchten wir zur Klärung des Streitfalles doch einen Vorschlag machen."

Aus unserer Richtung hatte der Mann wahrscheinlich am allerwenigsten eine Reaktion erwartet, und so konnte er, nachdem er eine kurze Pause des Nachdenkens hatte verstreichen lassen, nur antworten: "So redet! Aber sagt uns erst, wer Ihr seid und woher Ihr kommt!"

"Mein Begleiter und meine Wenigkeit kommen ein wenig von Amerika herüber!" antwortete ich.- "So, aus Amerika! Das ist toll! Und wo wollt ihr hin?" – "Ein bisschen ins Sachsenland hinauf!" erwiderte ich wahrheitsgemäß. - "Von Amerika herüber und ins Sachsenland hinauf! Und danach wohl am Ende noch ein wenig hinüber zu den Chinesern und Mongolen?" höhnte der Dorfschulze und sah sich beifallheischend um. "Und das sollen wir euch glauben?"

"Was ihr glaubt oder nicht glaubt, das mag Eure Sache sein, mein Herr. Ich dachte, Ihr wolltet jedenfalls meinen Vorschlag hören." –

"So redet doch auch endlich, Mann!“, erwiderte er ungeduldig. Sam aber flüsterte mir zu: "Heigh=day!- Jetzt muss jedes Wort sitzen, Ihr Greenhorn! Werdet uns noch in den schlimmsten Schlamassel hineinreiten, wenn ich mich nicht irre!"

Ich antwortete nun dem Dorfschulzen: "Ich habe auf einer früheren Reise über die englische Insel gesehen, dass dort bei Streitigkeiten unter Nachbardörfern neuerdings ein Spiel ausgetragen wird, welches 'Fussball' genannt wird." – "Und was hat das mit uns zu tun, Ihr Weltreisender?" fragte der Schulze ungeduldig.

"So hört doch erst einmal weiter zu!" entgegnete ich. "Es ist dazu zu sagen, daß die Bürgermeister der beteiligten Orte bei diesem Spiel eine wichtige Rolle innehaben."

Mein geschickter Hinweis auf die Bürgermeister, die ja im Grunde seine Kollegen waren, schien ihn neugierig zu machen, und so sprach ich schnell weiter: "Die männliche Jugend der miteinander im Streit liegenden Dörfer findet sich im Falle einer Streitigkeit zusammen, und man bildet auf jeder Seite eine Mannschaft aus elf Leuten. Sodann begibt man sich auf einen großen freien Wiesenplatz etwa der Länge 300 Fuß und der Breite 150 Fuß. An den kurzen Enden dieses Platzes wird durch Stangen je ein Tor markiert. Jede Mannschaft bewacht nun ihr eigenes Tor und versucht, einen ledernen Ball in das Tor des Gegners zu treten. Den Ball dabei mit den Händen zu berühren, ist nicht erlaubt."

Der Dorfschulze sah mich mit stieren Augen an, nahm dann einen erneuten Schluck aus seinem Bierkrug, wischte sich den Schaum vom Bart, setzte das Glas ab und sagte: "Also anstatt sich gegenseitig in die Allerwertesten zu treten, trifft es dort den Ball! Das klingt wüst. Aber sagt uns: welche Art von Ball soll eine solche Behandlung aushalten?"

"Man näht ihn aus alten Lederschuhsohlen zusammen, und in das Innere steckt man eine gute Schweinsblase, die kräftig aufgepumpt wird!" erwiderte ich. "Die jungen Kerle mögen das Spiel sehr, in einigen Gegenden spielen schon mehrere Dörfer regelmäßig gegeneinander." Und ich fügte noch, mich dabei umsehend, hinzu: "Dabei herrscht gewöhnlich eine Stimmung wie zur Zeit der schönsten Kirchweih!"

Bei der letzten Erwähnung ging ein unüberhörbares, zustimmendes Raunen durch die Gaststube, das auch dem Dorfschulzen nicht entgehen konnte. Für das Feiern war man hier offensichtlich zu haben. Der Schulze fragte mich: "Was nun hat das mit unserem hier geführten Prozess gegen diese beiden Oberissigheimer Halunken zu tun?"

"Das will ich Euch sagen", entgegnete ich. „Ihr könntet die beiden Gefangenen in ihr Dorf zurückschicken und durch sie die Aufforderung an den dortigen Dorfschulzen überbringen lassen, daß man gemeinsam ein solches, wie von mir soeben beschriebenes Fußballspiel austrägt. Dem Sieger steht danach ein Wunsch an die Gegenseite frei! Den beiden Bürgermeistern kommt hierbei eine ganz außerordentlich wichtige Aufgabe zu. Sie bestimmen zunächst darüber, wer den Schiedsrichter des Spieles gibt. Dazu müssten die beiden allerdings den Mut haben, einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und die Sache und natürlich den Preis, den der Verlierer zu zahlen hat, unter vier Augen auszuhandeln!"

Das saß. Der Dorfschulze konnte sich jedenfalls nicht die Blöße geben und etwa seine Furcht vor einem Aufeinandertreffen mit seinem Kollegen aus dem feindlichen Dorf eingestehen. Ein zustimmendes "Uff! Uff! Uff! Uff! Uff!" ringsum bekräftigte die Sache. Er trat also zu den beiden Gefangenen, versetze einem der beiden einen derben Tritt in die Seite und donnerte ihn an: "Hast Du auch richtig zugehört, du Schuft? Ihr werdet eurem Dorfschulzen ausrichten, dass ich ihn morgen Mittag auf der Gemarkungsgrenze erwarte, um das Nötige zu besprechen! Kommt er nicht, so ist er ein elender Feigling, über den jedenfalls in Zukunft jedes Niederissigheimer Kind lachen wird! Bindet die Kerle los!"

Mein treuer Sam war als erster mit seinem Bowiemesser zur Stelle. Die beiden Befreiten rappelten sich hoch und blickten Sam wie auch mich scheu und dankbar an, wobei sie ihre schmerzenden Handgelenke rieben. Dann verschwanden sie eilends zur Tür hinaus.

Wir sind am nächsten Morgen weitergereist und haben somit die weitere Entwicklung dieser Begebenheit nicht mehr verfolgen können. Viele Jahre später aber erzählte mir ein Freund von einem seltsamen Dorfe, in dem sich von Zeit zu Zeit ein Volksfest ereigne, zu dessen Anlass auch stets ein seltsamer Wettkampf gegen einen Nachbarort veranstaltet werde. Im Mittelpunkt stehe dabei der Kampf um einen ledernen Ball. Am Ende käme es meist zu wüsten Keilereien, an denen sich vor allem die männliche Jugend rege beteilige, die überhaupt an diesem allgemeinen Kräftemessen ihre Freude habe. Das weckte meine Erinnerung, und als ich meinen Bekannten darüber befragte, ob denn der Name des Ortes, von dem er da rede, etwa "Niederissigheim" laute, sagte er mir, dass er diesen Namen wohl nicht mehr genau erinnern könne, aber er klinge jedenfalls sehr ähnlich dem Gehörten.

(1) Siehe „Winnetou“ Bd. 1
(2) Trapperausdruck für: ob hier nicht etwas ganz und gar verkehrt läuft

Am Bärensee

Als Kind bin ich nicht gerne an den Bärensee gegangen. Erstens musste man ewig und drei Tage lang durch den Wald radeln, um überhaupt hinzukommen. Und zweitens traf man dort nie einen interessanten Menschen. Meine Freunde, meine Schulkameraden, die bevorzugten allesamt das leichter erreichbare Freibad bei uns im Ort.

Deshalb hab’ ich eigentlich auch keine Idee zum Bärensee. Meine Brüder und ich mussten bisweilen mit dorthin kommen, wenn Familienbaden angesagt war, am Sonntagnachmittag. Das bedeutete meistens Langeweile pur. Wir waren nämlich viel lieber auf eigene Faust unterwegs. „Pass auf, dass du keinen Sand auf die Decke trägst!“, viel mehr war normalerweise nicht, wenn die Alten dabei waren. Bestenfalls durften wir uns in dem kleinen Laden ein Fix-und-Foxi- Heft kaufen, um das wir uns anschließend stritten, und mit dem man sich wenigstens für eine halbe Stunde die Zeit vertrieben hat. Einfach öde. Die meisten Leute, die an den Bärensee kamen, waren sowieso nicht aus unserem Ort, weil der Bärensee ziemlich weit abseits liegt, und ungefähr 80 Prozent der Besucher waren darüber hinaus Amerikaner, in der Nähe stationierte Soldaten, und von all denen kannten wir nun mal keinen.

Aber halt.

Von wegen Amerikaner.

Einmal war ja doch was passiert.

Es hatte sich nämlich eines Sonntags die Nachricht verbreitet, dass im Bärensee ein Amerikaner ertrunken sei. Das eigentliche Ereignis hatte sich wahrscheinlich schon am Vortag oder in der Vorwoche begeben, aber unter uns Buben hielt sich mit einer wahrscheinlich aus der allgegenwärtigen Langeweile heraus geborenen Hartnäckigkeit das Gerücht, dass der Amerikaner immer noch nicht aufgefunden worden sei und also noch irgendwo da draußen im Wasser umher treibe (um es präziser zu formulieren - ich stellte mir dabei vor, daß er unter Wasser treibe).

Und wir entwickelten die Vermutung, dass man von offizieller Seite her bestrebt war, den Vorfall geheimzuhalten.

Jedes DLRG-Boot, das über den See fuhr, verdächtigten wir fortan, als verdeckte Patrouille unterwegs zu sein. Die DLRG’ler suchten nach unserer Ansicht immer noch den ganzen See nach dem ertrunkenen Amerikaner ab, ohne die Badegäste zu informieren. Man wollte wahrscheinlich ein allgemeines Aufsehen vermeiden. So jedenfalls unsere Theorie. Wahrscheinlich wollten sie verhindern, dass die Leute ihre Sachen packen und nach Hause gehen, weil niemand gerne beim Schwimmen einer Wasserleiche begegnen will. Die plötzlich vor ihm auftaucht und den bereits grün gefärbten Mund aufmacht. Vielleicht sollte auch kein Anlaß dafür gegeben werden, dass der gesamte Bärensee von der MP* abgeriegelt würde.

Und womöglich war der Amerikaner ja auch nicht einfach ertrunken, sondern ermordet worden? In dem Fall waren hier alle verdächtig, schlossen wir messerscharf. Endlich wäre also mal was los gewesen am Bärensee.

An diesem Tag vermied ich es, in den Bärensee hinauszuschwimmen. Ich blieb lieber im Nichtschwimmerbereich. Nicht mal mit der Luftmatratze überquerte ich mehr die Absperrleine. Das Problem mit dem braun-trüben Bärenseewasser ist nämlich schon immer gewesen, dass man dort nicht besonders gut in die Tiefe hinuntergucken kann. Jeden Moment hätte man also, wenn man im See schwamm, mit dem Fuß an einem unbestimmten Etwas entlangstreifen können, welches sich hernach als der ertrunkene Amerikaner hätte herausstellen können.

Und stocherten die DLRG-Leute dort hinten nicht gerade schon wieder im Wasser herum, immer noch auf der Suche nach der Wasserleiche, deren Existenz sie uns nicht eingestehen wollten?

Wir blieben also misstrauisch. Ich ließ mir von meinem jüngeren Bruder jede noch so kleine verdächtige Veränderung im Verhalten der DLRG-Leute berichten. Mal fuhren sie mit zwei Booten gleichzeitig raus, mal versammelten sie sich in auffälliger Weise an ihrem Bootssteg und diskutierten über irgendwas.

Sie benahmen sich verdächtig, kein Zweifel.

Wir beschlossen irgendwann, auf eigene Faust zu handeln, und begannen damit, entlang dem damals wild belassenen Ufer, welches an der dem DLRG-Haus gegenüberliegenden Seite des Bärensees verlief, unsere eigenen Nachforschungen anzustellen. Hier, wo Baumwurzeln und Sträucher in das Wasser ragten, hätte eine Wasserleiche angeschwemmt worden sein können. Und sie könnte dort sogar eine Zeitlang unentdeckt geblieben sein, so kalkulierten wir messerscharf.

Wir suchten also am Ufer herum. Wir stiegen zwischen toten Ästen und Gesträuch herum, stocherten mal hier, mal da im Wasser. Alles in allem: umsonst. Die mutmaßliche Wasserleiche konnten wir nicht entdecken.

Aber immerhin stießen wir irgendwann auf ein verdächtiges Päckchen. Auf einen Schuhkarton, der halb im Wasser lag und auffällig verschnürt war. Ordentlich, mehrfach kreuzweise, mit dicker Kordel fest verpackt.

Wer warf solch ein übertrieben verschnürtes Paket ins Wasser? Dieses Objekt mussten wir natürlich genauer in Augenschein nehmen.

Wir zerrten und schoben das tratschnasse und völlig durchweichte Paket mit langen Stecken aus dem Nass heraus und kratzten dann mit den Stöcken die durchnässte Pappe weg, so dass wir den Inhalt bald erkennen konnten. Das Objekt direkt mit den Händen anzufassen, trauten wir uns nicht, und ich war hernach auch froh, dass wir’s nicht gemacht haben, kann ich Ihnen sagen.

Als wir die Pappe entfernten, war zunächst etwas schwarzweißfarbenes, irgendwie weich Anmutendes zu erkennen. Und als wir die Hülle fast vollkommen auf- und weggerissen hatten, konnten wir endlich feststellen, dass es sich bei dem seltsamen Material um tierisches Fell handelte. In dem Kasten, den wir nun fast vollständig entfernt hatten, hatte sich, wie wir erkannten, eine tote Katze befunden, die nun schlaff und irgendwie verdreht zwischen den übriggebliebenen Schnüren vor uns lag.

Der Anblick widerte uns so an, dass wir das klägliche Bündel einfach liegen ließen und uns auf den Weg zurück zu unserem Lagerplatz machten.

Mein Bruder sprach auf unserem Rückweg das aus, worüber ich gerade begonnen hatte, nachzugrübeln: „Meinst du, die war schon tot, als die ins Wasser geworfen worden ist?“

„Klar war die schon tot!“ antwortete ich. Ein bisschen zu schnell, denn ich wollte mit ihm nicht darüber sprechen.

Irgendwie fand ich, dass mein kleiner Bruder für Gedanken über die Praktiken eines Tierquälers noch nicht alt genug war.

Warum einer ein Paket mit einer toten Katze darin so fest und akkurat verschnürt, die Frage habe ich noch eine ganze Weile mit mir herumgetragen. Ich meine, wie würden Sie denn eine tote Katze entsorgen? Ich vermute mal, dass Sie sich schon mal nicht die Mühe machen würden, sie ausgerechnet bis zum nächsten Badesee zu bringen. Wenn Sie sie schon loswerden wollten, dann gäbe es doch sicher andere, näherliegende Möglichkeiten, als ausgerechnet einen Badesee, oder? Und wahrscheinlich würde es auch keinen Grund dafür geben, ein totes Tier so fest, doppelt und dreifach einzuschnüren, als bestünde die Gefahr, dass es noch mal heraushüpft aus seinem Pappsarg.

Außer, es bestünde tatsächlich die Möglichkeit, dass das Vieh noch mal entfleuchen könnte.

Verstehen Sie, was ich meine?

So jedenfalls dachte ich damals über unseren Fund.

Irgendwie war mir nach unserer Entdeckung die Laune auf weitere Inspektionen bezüglich der Angelegenheit mit dem toten Amerikaner vergangen. Und auch später habe ich mich nie mehr besonders für den Bärensee erwärmen können. Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, warum. Ich glaube, es fehlt mir dort einfach der Grad an Wildheit, den ich von einem See erwarte. Ein paar Buchten, große Bäume drumherum, weitläufige Liegewiesen. Freiraum. Es gibt dort auch zu viele Jägerzäune, wegen der vielen Dauercamper mit ihren winzigen Grundstücken. Und in den Bärensee hinaus zu schwimmen, so richtig lange darin zu schwimmen, das habe ich auch als Erwachsener nie mehr so richtig fertiggebracht. Es fehlt mir dort einfach die rechte Lust dazu. An anderen Seen habe ich diesbezüglich keinerlei Hemmungen, wirklich nicht. Wir gehen heutzutage, wenn Sommer ist, entweder ins Freibad. Oder eben an einen weiter entfernten, wesentlich größeren See, den wir in den letzten Jahren für uns entdeckt und richtig lieb gewonnen haben, mit grün schimmerndem, dennoch klarem Wasser. Dort finden Sie mich dann, wenn ich nicht auf der Badedecke weile, weit hinter der Absperrleine, wo nur wenige hinkommen.

Die meisten Leute, die man normalerweise am Badesee trifft, schwimmen nur selten weit hinaus. Die meisten bleiben lieber in der Nähe des Ufers. Achten Sie mal drauf.

Am Schmelzweiher

Der Abstieg war beschwerlich, weil der Regen den Boden aufgeweicht hatte, und weil der schmale Pfad auch sonst ziemlich schlecht begehbar war. Der Pfad wurde nicht oft benutzt. Der Boden war an manchen Stellen glitschig, und wenn man auf dem abschüssigen Weg das Gleichgewicht verlor, dann waren jedenfalls die Kleider reif für die Wäsche.

Es war der Sommer ’71, ein Nachmittag nach einer durchregneten Nacht. Inge, Michi und Norbert waren auf dem Weg zu dem See, der innerhalb eines kleinen Waldstücks am Rande des Dorfes lag, genauer gesagt, inmitten einer wild zugewucherten, trichterförmigen Senke von vielleicht dreihundert Metern Durchmesser. Es verschlug nur selten jemanden hierher. Wenn man die Karte von Bruchköbel studierte, dem kleinen Ort, auf dessen Gemarkung sich dieses Stück Wildnis befand, dann konnte man erkennen, dass das Gewässer dort als „Schmelzweiher“ ausgewiesen war. Über diese Zweckbenennung hinaus hatte der Weiher jedoch keine eingängige Bezeichnung. Das Gewässer war am Ort sogar ziemlich unbekannt. Viele Einwohner reagierten erstaunt, wenn man ihnen von der Existenz des kleinen, verwilderten Sees erzählte, der da angeblich am Rande ihres verträumten Dorfes existierte.

Das Gebiet war auf allen Seiten von Bäumen, dichtem Buschwerk und Brombeergewächsen umgeben. Die Gemeindeverwaltung hatte einen Zaun um das Gelände ziehen lassen, weil man es von Amts wegen als einen gefährlichen, für das Publikum unbegehbaren Platz eingestuft hatte - schwierig zu beaufsichtigen und zu überwachen.

Den Zaun hatten die drei bereits hinter sich gelassen. Sie kannten nämlich die Stelle, an der jemand ein großes Stück des Maschendrahtes herausgeschnitten hatte. Um überhaupt bis zu dem Zaun gelangen zu können, musste man den Spielplatz am Siedlungsrand überquert haben, über einen Jägerzaun geklettert sein und dahinter den unscheinbaren Pfad ausfindig gemacht haben, auf dem sie nun schon eine ganze Weile entlang wanderten.

Inzwischen waren sie dem Seeufer schon ziemlich nahe gekommen, obwohl davon noch nichts zu sehen war.

Sie waren auf dem Weg zu ihrer geheimen Hütte. Die hatten sie während des Sommers ’69 errichtet, also vor zwei Jahren. Die Hütte war seit jener Zeit zu ihrem Treffpunkt, zu ihrem gemeinsam gehüteten Geheimnis geworden. Niemandem sonst hatten sie seither davon erzählt. Noch nicht mal ihren Eltern. Die hätten sowieso die Augenbrauen bedenklich nach oben gezogen angesichts des Umstands, dass sich ihre Kinder am Nachmittag auf einem amtlicherseits verbotenen Gelände herumtrieben, ohne Aufsicht, noch dazu in der Nähe eines dunklen Weihers mit ungesichertem und wild bewachsenem Ufer.

Die Stelle, an der sie ihre Hütte erbaut hatten, befand sich weiter unten, in der Nähe des Sees. Ihre Hütte war bislang unentdeckt geblieben. Ein einziges Mal nur hatten sie eine Gruppe älterer Jungs beobachten können. Die hatten sich am gegenüberliegenden Ufer zu schaffen gemacht, waren aber bald wieder verschwunden.

Damals, im 69er Sommer, als sie ihre Hütte errichtet hatten, waren die drei zu Freunden geworden. Für den Bau hatten sie Bretter herbeigeschleppt und sogar ein altes Stück Wellpolyester für das Dach besorgt. Herausgekommen war ein Gebäude mit einer Türöffnung und einem kleinen Fenster, in dem man, immerhin, bei Regen trocken bleiben konnte. Beim Bau ihres Häuschens hatte Inge entdeckt, dass ihr das Spielen mit Jungs tausendmal mehr lag als mit ihren langweiligen Schulkameradinnen. Manchmal waren sie fast an jedem Nachmittag der Woche „zu unserer Hütte“ gegangen, bisweilen hatten aber auch längere Pausen zwischen ihren gemeinsamen Besuchen gelegen. Die Hütte war ihre gemeinsame Zuflucht. Hier gab es keine Eltern, die einen zum Küchendienst verpflichteten, keine Lehrer, die einen im Sportunterricht an den Ohren zogen, wenn man nicht richtig über den Bock gesprungen war, keinen Hausmeister, der einen vom Rasen herunterjagte und mit einer „Anzeige“ drohte.

Sie erreichten jetzt das dichte Gestrüpp, welches ihre Hütte bislang so wirksam vor den Blicken neugieriger Besucher verborgen hatte. Norbert teilte das Geäst und schlüpfte geduckt hindurch. Die anderen folgten ihm.

Ihr kleines Häuschen stand wie immer da, inmitten einer kleinen Lichtung, von Unkraut umwuchert.

Wie immer.

Oder doch nicht.

Ihre Aufmerksamkeit wurde durch die Puppe gebannt, die auf dem Grabstein lag. Inges Puppe, die sie „Gertrud“ genannt hatte. Gertrud, so hieß Inges Oma.

“Gertrud“ war eine von diesen antiquierten Plastikpuppen, wie sie schon lange nicht mehr verkauft wurden. Puppen dieser Art fand man nur noch bei manchen Großmüttern auf dem Sofa, oder auf dem Flohmarkt. Der Körper war ganz aus hautfarbenem Hartplastik, mit beweglichen Beinen und Armen. Die Puppe hatte noch nicht mal Haare, stattdessen waren die Haare als eingefärbte, inzwischen ausgebleichte Reliefstruktur auf dem Kopf nachgebildet. Michi und Norbert fanden die Puppe altmodisch, aber trotzdem war sie seit dem vergangenen Sommer so etwas wie ihr gemeinsames Maskottchen geworden. Immer, wenn sie hierher gekommen waren und die Puppe unversehrt im Häuschen vorgefunden hatten, dann war ihnen gewiss, dass ihr geheimes Clubhaus unentdeckt geblieben war.

Aber das war heute nicht so. Sie betrachteten die Puppe, und sie betrachteten den zerschlagenen Plastikkopf. Sie traten näher heran an den Stein, auf dem die Puppe lag.

Bei dem Stein handelte es sich um einen quaderförmigen, tief schwarzen Grabstein. Seine Kanten waren etwa fünfzig Zentimeter lang, und er glänzte speckig. Die Flächen waren glatt bearbeitet, und auf der nach oben liegenden Fläche war die von einem Steinmetz eingearbeitete Inschrift zu lesen: „Ruhe sanft, Von allen Leiden, In der stillen Gruft, bis dich einst zu jenen Freuden Dein Erlöser ruft.“ Unter dem Spruch stand eine Psalmenbibelstelle. Es gab jedoch keine Namensinschrift, etwa wie „Hier ruht...“, wie man sie immer auf Grabsteinen lesen konnte.

Über die Herkunft dieses Steines hatten sie sich die abenteuerlichsten Geschichten zusammengereimt, aber im Grunde war es ihnen ein Rätsel, wie der Stein wohl einst seinen Weg hierher gefunden haben mochte. Der Friedhof des Dorfes befand sich kilometerweit von dem Ort entfernt, an den es diesen namenlosen Grabstein verschlagen hatte.

„Jemand muss hier gewesen sein.“ Michis Stimme zitterte ein bisschen.

„Gute Gertrud!“ seufzte Inge. Sie begann damit, die Splitter des Puppenkopfes zusammenzuklauben. Norbert betrachtete das große Loch im Kopf der Puppe. "Die ist nicht mehr zu retten, Inge. Die kannste vergessen."

Während ihre Freundin Inge sorgsam die Puppensplitter zusammenlas, begannen Michi und Norbert, sich umzusehen. Weitere Spuren fremder Anwesenheit konnten sie nicht entdecken. Auch innerhalb ihrer Hütte sah alles normal aus. Bis auf die Tatsache, daß die Puppe eben nicht mehr dort drin saß, sondern von irgendeinem Idioten zertrümmert worden war.

Nach einiger Zeit richtete sich Inge auf. Sie sagte: „Wir müssen Gertrud begraben!“ Die beiden Jungen blickten sie erstaunt an.

Inges Blick fiel auf den Grabstein. „Wir begraben sie hier. Neben dem Stein!“ sagte sie. „Dann hat der Stein endlich ein Grab, zu dem er gehört.“ - „Wir haben keine Schaufel.“ - „Dann graben wir mit den Händen. Es muss nicht tief sein. Die Erde ist hier ganz weich, wie Waldboden.“ Inge schob entschlossen Laub und Zweige beiseite und grub ihre Hände in die Erde. Norbert hockte sich neben sie und tat es ihr gleich. Michi besorgte ein kleines Brett aus der Hütte, womit er die Erde zur Seite schürfen konnte. So gelang es ihnen, eine Vertiefung zu graben, in die sie schließlich die Puppe und die Scherben, aus denen Gertruds Köpfchen einst bestanden hatte, hineinbetteten. Dann schoben sie die Erde über die Puppe.

Sie richteten sich auf, und Inge sagte: „Jetzt muß jemand ein Gebet sprechen!“ – „Was denn für’n Gebet?“ fragte Michi. Inge deutete auf die steinerne Inschrift und sagte zu Michi: „Da steht doch eins. Das passt. Los, mach du’s!“ – Michi zögerte. „Meinst du das im Ernst?“ „Klar mein ich’s im Ernst!“, sagte Inge. Die beiden Jungs sagten aber nichts. Inge sah beide an: „Na, was ist los mit euch? Könnt ihr nicht mal ein Gebet sprechen, für unsere Puppe?“ Aber keiner brachte einen Ton heraus. Die Jungs guckten sich verlegen an. Nach einer kurzen Weile begann Inge selbst, das ’Gebet’ über dem kleinen, unscheinbaren Grabhügel zu sprechen, den sie errichtet hatten – langsam und leise, die Grabsteininschrift rezitierend: „Ruhe sanft... von allen Leiden.... in der stillen Gruft, bis dich einst...“

Ey, was ist’n das für’n Betverein hier?“

Die Stimme ließ sie herumfahren. Am Eingang zu ihrem geheimen Platz stand Zitzeun. Der dumme Zitzeun.

Zitzeun, das Arschloch, dachte Michi.

Sie mussten den Pfad gefunden haben.

Sie kannten Zitzeun aus der Schule. Er besuchte die Klasse über ihnen. Er war ein großer und kräftiger, dicklicher Kerl, der Michi und Norbert um einen Kopf überragte. Hinter Zitzeun stiegen zwei seiner Schulhofsgefährten aus dem Gebüsch heraus. Michi kannte ihre Namen. Der eine, ein wie Zitzeun ziemlich groß gewachsener Blonder, hieß Bernd. Er hatte mal Norbert die Luft aus dem Reifen gelassen, aber Norbert hatte sich damals nichts zu sagen getraut. Der zweite Freund Zitzeuns hieß Ede. Von dem, einem schmalen, blassen Typ, wusste Michi, dass er stotterte und eigentlich ein eher schüchterner, stiller Typ war.

’Der Dumme Zitzeun’. So nannten ihn die meisten Schüler, denn Zitzeun war dafür bekannt, daß er in der Schule ernste Probleme mit den Noten hatte, und dass er seinen Mitschülern, insbesondere denen aus den unteren Klassen, bisweilen unangenehme Probleme bescherte. Besonders die kleineren Jungs hatten Angst davor, sich mit Zitzeun und seinen Freunden anzulegen. Zitzeun und seine Freunde waren Typen, die auf Streit aus waren, das wussten alle. Und anscheinend hatte der dumme Zitzeun darüber hinaus auch außerhalb der Schule Probleme. Einmal waren Polizisten in die Schule gekommen, weil sie Zitzeun und seine Jungs im Verdacht gehabt hatten, nachmittags Steine auf die Bahngleise auf dem Bahndamm gelegt zu haben. Um sie durch die Gegend schwirren zu lassen, wenn ein Zug drüberfuhr, oder so. Das hatten jedenfalls die anderen Schüler erzählt. Zitzeun und ein paar andere waren während des Unterrichts einer nach dem anderen aus der Klasse geholt worden, zu einem richtigen Verhör. Wie es hieß, sollen sie damals alle zu Hilfsarbeiten beim Roten Kreuz verdonnert worden sein.

Zitzeun ging man also besser aus dem Weg, vor allem, wenn man einen Kopf kleiner war. Aber das würde hier schwierig werden, dachte Michi.

„Ist das eure Bude?“ fragte Zitzeun, auf die Hütte deutend, und die drei nickten. - „Also, Leute, das is’n Schrotthaus.“ Er trat zu dem Häuschen und versetze ihm einen so derben Tritt, daß es bedenklich wackelte und das Holz ächzte.

Inge sah zu Michi und Norbert. Dann fragte sie, zu Zitzeun gewandt: „Wart ihr das, die die Puppe kaputtgemacht haben?“

Zitzeun sah zu seinen Freunden. „Hey, welche Puppe denn, Puppe?” fragte er. Seine Freunde lachten.

„Du weißt, was ich meine!“ antwortete Inge. Ihre Stimme zitterte ein bißchen. So stand sie manchmal auch vor ihrem Papa, der ein strenger Mann war und der es nicht gerne sah, wenn seine Tochter mit Michi und Norbert, „diesen Nichtsnutzen“, herumzog. Aber jetzt hätte sie gewünscht, ihr Papa wäre hier gewesen.

Zitzeun kratzte sich demonstrativ am Kopf. „Hmmm. Lass ma überlegen.“ Er rollte theatralisch mit den Augen. „Ach so, die. Die Puppe. Konnt’ ja keiner wissen, daß die irgend jemandem gehört. Daß die euch gehört.“ Er lachte. Dann setzte er eine ernste Miene auf und sagte:„Also, das war so: die ist kaputtgegangen.“ Jetzt grinste er, und schaute triumphierend zu seinen Begleitern. Die kicherten mit. Kicherten dreckig, dachte Michi.

Die grössten Arschlöcher vom ganzen Schulhof, und ausgerechnet mit denen stehen wir hier mutterseelenallein herum, dachte Michi verzweifelt. So eine Scheisse. Wir müssen gucken, daß wir hier wegkommen.

Zitzeun fragte: „Habt ihr mal zufällig ’n Fuffziger? Oder ’ne Fluppe?“ Seine Kumpane näherten sich, und Michi sank das Herz in die Hose. Abhauen ist nicht, dachte er. Ringsherum nur Gebüsch, und den Weg zum Pfad versperrten ihnen diese Arschlöcher. Scheisse. So eine Scheisse. Er sah zu dem Brett, mit dem sie gegraben hatten. Es lag neben ihm, auf dem Grabstein.

„Wir haben kein Geld dabei“, sagte Michi, und Norbert nickte ängstlich.

“Wir gucken selber mal nach“, sagte Zitzeun gepresst und sprang unvermittelt auf Michi zu. Zitzeuns Typen bewegten sich ebenfalls vorwärts. Im selben Moment bückte sich Michi, griff nach dem Brett, riss es nach oben. Schlug es dem verdutzten Zitzeun direkt aufs linke Ohr. Zitzeun taumelte zur Seite, fasste sich auf die Wange, stieß dabei einen unterdrückten Ton aus, der sich wie „Ou!“ anhörte, und starrte fassungslos auf Michi. Die anderen hielten für einen Moment inne. Michi sprang mit drei, vier Sätzen Sätzen auf das Gebüsch zu, rannte auf den Pfad und bog nach unten ab, zum Seeufer.

Er hörte Zitzeun hinter sich her rufen: „Drecksau, ich krieg dich!“ und rannte in wilder Hast den Pfad entlang, das Brett immer noch in der Hand. Er sah sich um. Zitzeun war ihm auf den Fersen. Michi erreichte das Seeufer, schwenkte scharf nach rechts und sah einen Moment später Zitzeun erscheinen. Der hatte den plötzlichen Knick des Weges schlecht eingeschätzt und kam mit den Füßen ins Wasser, stolperte über einen alten Holzstamm und geriet ins Straucheln. Im nächsten Moment ging er in die Knie, sank seitwärts nieder, mit einem Arm nach Halt fuchtelnd. Dann saß Zitzeun im brackigen Wasser und schrie auf. Er stützte sich mit dem Arm auf, um wieder hochzukommen, aber in dem Uferschlamm rutschte er abermals weg, jetzt erst recht in das Brackwasser hinein. Er quiekte wie ein Schwein. Anscheinend schien ihn das verschlammte Wasser in echte Panik zu versetzen.

Michi sprang herbei, hob das Brett und schlug es Zitzeun, der sich gerade aufrappeln wollte, mit voller Wucht ins Gesicht.

Zitzeun stieß einen gurgelnden Laut aus, taumelte und platschte mit seinem ganzen Körper ins Wasser zurück. Durch Michis gesamten Körper wogte ein wildes, triumphierendes Gefühl. Zitzeun begann erneut zu schreien, richtig zu brüllen, diesmal vor Wut und Schmerz zugleich.

„Zitze? Was ist denn los, Zitze?“ Die Stimmen der anderen waren zu hören, bloß weg jetzt, dachte Michi. Er warf das Brett zur Seite. Er lief noch ein Stück am Ufer entlang und schlug sich nach einigen Metern seitwärts in die Büsche. Sein Arm, der Arm, mit dem er Zitzeun das Brett ins Gesicht gehauen hatte, zitterte. Michi schwitzte und atmete schwer. Er blieb eine Weile still stehen. Dann bewegte er sich langsam wieder zurück, durchs Gebüsch, in die Richtung der Stelle, an der er Zitzeun so übel mitgespielt hatte. Bald hörte er die Stimmen der Typen wieder deutlicher. Aus dem Verborgenen konnte er Zitzeun und seine Freunde nur undeutlich erkennen, zumal es inzwischen zu dämmern begonnen hatte. Zitzeuns Kumpane bemühten sich, ihren Anführer zu beruhigen, der über und über mit Dreck und Schlamm bedeckt zwischen ihnen stand und unablässig vor sich hinfluchte. Anscheinend bezog er auch seine Freunde in seine Beschimpfungen und Beschuldigungen mit ein, denn deren wenige Äußerungen hatten einen entschuldigenden Tonfall. Und Zitzeun hatte es offenbar böse erwischt, denn das Geschmiere in seinem Gesicht war nicht bloß Schlamm, sondern richtiges Blut.

Michi bewegte sich langsam weiter zurück in die Büsche, kletterte eine Böschung hinauf und kam schließlich wieder auf den Pfad. Er rannte zurück zur Hütte. Wo waren seine beiden Freunde? „Inge? Nopf?“ Keine Antwort. Er sprang wieder auf den Weg, lief weiter nach oben, in der Hoffnung, die Freunde hätten denselben Gedanken gehabt. Nach einigen Minuten hatte er das Zaunloch erreicht, hielt kurz inne und lauschte. Von unten war nichts zu hören, offensichtlich hatten Zitzeun und seine Freunde noch genug mit sich selbst zu tun.

„Michi, bist Du’s?“ Das war Inges Stimme. „Ich bin hier, am Zaun!“ antwortete Michi. Die beiden kamen jetzt aus ihrem Versteck hervor. „Wir sind durchs Gebüsch nach hier oben durch. Wollten gerade nochmal runtergehen. Wußten ja nicht, ob sie dich erwischt haben“, sagte Norbert. „Nein, kein Problem. Machen wir, daß wir hier wegkommen!“ antwortete Michi. Oben angekommen, wählten sie Nebenwege, um in das Viertel zu gelangen, in dem sie wohnten. Michi erzählte ihnen das Nötigste, und alle hatten im Verlauf seiner Schilderung besorgte Gesichter bekommen. „Wer weiß, was das morgen wird in der Schule“, hatte Norbert gesagt. „Der wird uns bestimmt noch Ärger machen.“ Dann hatten sie sich voneinander verabschiedet.

Ihre Eltern erfuhren von dem Vorfall nichts.

Den Rest der Woche war Zitzeun nicht in der Schule erschienen. Sonderbarerweise ließen sich Zitzeuns Freunde nichts anmerken. Sie ignorierten Inge, Michi und Norbert vollständig. Als ob gar nichts geschehen wäre. In der folgenden Woche war Zitzeun zwar wieder in der Schule, aber während der nur noch kurzen Zeit bis zu den großen Ferien kam es zu keiner Begegnung mehr mit ihm. Michi, Inge und Norbert plagte zwar noch eine Zeitlang die Sorge um, daß es irgendwann mal auf dem Nachhauseweg Probleme mit Zitzeun geben würde. Aber nichts dergleichen geschah.

Nach den Ferien war Zitzeun von der Schule verschwunden. Wohin, hat eigentlich niemanden interessiert.

Zum Schmelzweiher sind Inge, Michi und Norbert nie mehr gemeinsam hinabgestiegen. Nur Michi ist während der Ferien noch ein einziges Mal alleine dort gewesen. Er stellte fest, daß ihre Hütte in der Zwischenzeit völlig zerstört worden war. Nur der Grabstein lag immer noch genauso dort herum wie eh und je, direkt neben dem Puppengrab.



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Nachtrag

In die Erzählung sind Details einer Geschichte eingeflossen, die vor einigen Jahren unter Bruchköbeler Schulkindern erzählt wurden. Ich habe allerdings einige der grausligeren Details unberücksichtigt gelassen.

Den Quälgeist "Zitzeun" habe ich leider selbst gekannt und erduldet.

Den erwähnten Schmelzweiher gibt es wirklich, ebenso konnte man in dessen Nähe vor ein paar Jahren den beschriebenen „Grabstein“ finden. Von dem Hügel, der sich neben dem echten Stein befindet, erzählten damals manche Kinder, dass der in Wirklichkeit ein Grab sei, was noch eines der eher harmlosen Details der erwähnten Kindergeschichte darstellte.

Ob der Zugang zum Schmelzweiher heute noch so möglich ist wie in der Geschichte beschrieben, weiss ich nicht. Mit Google ist er jedenfalls leicht zu orten. Falls es Sie interessiert, dann forschen Sie ein bißchen nach dem beschriebenen Pfad, und dem Loch im Zaun. Sofern es noch vorhanden ist. Bruchköbel hat eine pflichtbewusste Stadtverwaltung und ummsichtige Bauhof-Mitarbeiter.

Bruchköbel, im Juni 2005 und im April 2016

Jürgen Dick
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