Internetsucht

Südamerika

Heutzutage schreiben nicht wenige Leute ihr Tagebuch nicht mehr bloß daheim im stillen Kämmerlein in eine alte Kladde, sondern gleich ganz ins Internet hinein, dorthin, wo jeder, dem danach ist, mitlesen kann.

Solche öffentlich einsehbaren Textsammlungen heißen „Blogs“, und man kann dort, wenn man sich die Mühe macht, allerhand private Mitteilungen lesen. (Aber was erklär’ ich, Sie lesen ja gerade in einem herum.)

Die Offenheit mancher Mitmenschen ist jedenfalls erstaunlich. Man kann ziemlich viel erfahren über Beziehungs-, Trennungs-, Zahn- und Halsschmerzen, über geschenkte Halsketten oder auch über den Kummer, alleine zu sein. Letzteres übrigens ein immer wieder anzutreffendes Thema, oft in verklausulierter Form.

Darüber hinaus haben sich inzwischen Millionen von Menschen auf Portalen wie „myspace“ eine eigene Webseite eingerichtet, oder man lädt auf eine Seite wie „youtube“ selbstgedrehte Filme und Musik in eine riesige, für alle einsehbare Datenbank hoch. Schwupp, ist man weltberühmt.

Das zeitgemäße Schlagwort für dieses Phänomen lautet „Vernetzung“, haben Sie bestimmt schon mal gehört.

Ich habe einen Bekannten, der es im Rahmen der globalen Vernetzung zu Freunden in aller Welt gebracht hat. Auf seiner eigenen Seite präsentiert er zwar nur wenige Details von sich, und das nach meinem Geschmack Spannendste an seiner Seite ist ein Bild von ihm, auf dem er, an irgendeiner Strandpromenade sitzend, sinnierend an der Kamera vorbei hinaus auf das offene Meer blickt. Und man hat das Gefühl, der Blick geht noch irgendwie weiter, bis in die Unendlichkeit hinaus, und ins Universum hinein.

Es ist ein nettes Foto von ihm, und das Bild seines wettergegerbten, männlichen Antlitzes, mit einigen karg gehaltenen philosophischen Sätzen darunter, mag der Grund dafür gewesen sein, dass er inzwischen eine ganze Anzahl weiblicher Fans gewonnen hat, darunter eine hübsche Dame aus Chile, die ihm regelmäßig anrührende Sätze über ihrer beider Seelenverwandtschaft auf seine Seite schreibt (und natürlich auch ihr Foto beigestellt hat, deswegen habe ich mit Fug und Recht „hübsch“ gesagt).

„Hast Du sie schon mal persönlich kennengelernt?“, frage ich ihn. „Nee, aber wenn ich irgendwann nach Südamerika fliege, besuch ich sie ja vielleicht mal“, antwortet er.

Wenn Sie mich fragen, ich glaube allerdings, es wird nichts mit den beiden. Sie telefonieren nämlich noch nicht mal miteinander.

Distanz bleibt eben Distanz, auch bei aller Vernetzung.
Wallonisch

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