Kindheit und ihre Folgen

Gorch Fock

Beim Stichwort „Gorch Fock“ schlagen derzeit die Wellen hoch, es geht in den Zeitungen um Drill und unmenschliche Behandlung von Offiziersschülern. Woran das Stichwort „Gorch Fock“ mich selbst erinnert, ist etwas Anderes.

Sagt jemand „Gorch Fock“, dann versetzt mich das zurück in die späten 60er, auf den Pausenhof unserer heutigen Bruchköbeler Haingartenschule (die damals noch nicht so hieß). Dort stand ich inmitten meiner Klassenkameraden, und wir spielten Quartett. Damals war es einige Sommer lang unter uns Buben „in“, Quartettspiele zu besitzen. Die gab es zum Beispiel beim Schenker zu kaufen.

Die Quartettspiele hatten Themen. Es gab Flugzeug-, Auto-, Rennwagenquartetts. Und natürlich auch Schiffsquartetts. Hier gab es für jedes einzelne Schiff eine Karte, auf der die wichtigsten Daten und ein Foto des jeweiligen Schiffes zu sehen waren. Eine der Karten zeigte die „Gorch Fock“. Dass „Gorch Fock“ der Name eines Seemannsdichters ist, wusste ich damals nicht. Für mich klang er immer ein bisschen sonderlich. Ich dachte damals, „Gorch“ sei ein schwedisches Wort für „Storch“, oder so.

Wie auch immer. Wir spielten das Spiel nicht nach den üblichen Quartettregeln. Das Quartettspiel auf dem Schulhof lief so: Man stand sich auf dem Schulhof gegenüber, jeder seine Hälfte der Karten in der Hand, und verglich die Karte, die man obenauf hatte, mit der Karte des Gegners. Wenn man „dran“ war, durfte man ansagen. Hatte man zum Beispiel ein U-Boot auf der Hand, war die Leistung das Entscheidende. Man sagte dann zum Beispiel: „1.200 PS!“ und gewann damit die Karte des Gegenüber. Der hatte nämlich vielleicht gerade eine chinesische Dschunke vor Augen, die bekanntlich nicht so viele PS zustande bringt. Man durfte anschließend, weil gewonnen, mit seiner nächsten Karte weiter fragen, konnte also wiederum bestimmen, welcher Wert stach. Gewonnen hatte, wer es am Ende schaffte, alle Karten des Gegners in Besitz zu nehmen.

Das Spiel wurde auf dem Schulhof ausschließlich von Buben gespielt, so weit ich mich erinnere. Was die Mädchen währenddessen gemacht haben, weiss ich nicht. In Bezug auf die Karte mit der „Gorch Fock“ drauf hegte ich immer gemischte Gefühle. Wurde man befragt, verlor man mit der „Gorch Fock“ meistens, denn die „Gorch Fock“ ist nun mal langsamer als die meisten Motorschiffe; sie kommt nur in Orkanen auf richtig viele PS. War man aber selbst mit dem Befragen dran, dann konnte man mit der „Gorch Fock“ gewinnen, indem man sagte. „Höhe: 45 Meter!“ In Bezug auf die Höhe war die Gorch Fock eine gute Karte, was natürlich mit den Segelmasten zu tun hat. Die meisten anderen Schiffe in den Quartetten waren niedriger.

Warum ich das alles erzähle? Nun, was ich sagen will, das ist, dass die „Gorch Fock“, über die heute überall berichtet wird, nicht meine „Gorch Fock“ ist. Meine „Gorch Fock“ war eine andere. Es wurde auf ihr nicht herumgebrüllt. Sie war 45 Meter hoch, ganz weiss und strahlend, und man konnte mit ihr ein Quartettspiel gewinnen, obwohl sie noch nicht mal die Schnellste gewesen ist.

Runter vom Gas!

Die Abfahrt Kirledreieck auf die B45 und dann hinunter auf die A66 Richtung Frankfurt ist mir die liebste.

Wenn man diese Autobahnzufahrt benutzt, hat man freie Fahrt. Die Zufahrt mit ihren Kurven runter, im dritten Gang, dann in schneller Folge hoch auf 4, 5, 6, und auf Höhe der Zufahrt Wilhelmsbad habe ich dann schon 210 Sachen drauf.

Ab hier wird die Autobahn dreispurig, vor mir liegt nun die endlose Weite eines von jeder Tempobegrenzung verschonten Autobahnabschnittes, der bis Frankfurt reicht.

Der dünne Verkehr erlaubt die Höchstgeschwindigkeit auf der linken Spur, was zur Folge hat, daß man in vier, fünf Minuten am Riederwald sein kann. Die Abfahrten Dörnigheim, Bischofsheim fliegen nur so vorbei.

Die Bordanlage spielt „4 Minutes“ von Madonna, der Titel ist im gegebenen Zusammenhang Programm.

Endlich frei wie die Männer hier draußen sein, denkst Du, nein, fühlst Du dann - bis schliesslich die Tempo-Warnanlagen auf der Höhe des Hessen-Centers aufleuchten. „80“, „60“, „40“ blinkt und warnt es dem Fahrer wie wild entgegen, auf daß er endlich sein Auto entschleunigen möge.

Aber ich muss hier nun innehalten.

Wenn irgendeine Frau das liest, all dieses Zeug von dieser Autobahnraserei.

Typisch Mann, wird sie denken. Das eben war aber nur eine Männerphantasie. In Zeiten der Klimakatastrophe und steigender Ölpreise fährt man natürlich schonend und spielt nicht den infantilen Verkehrsrowdy. In Wirklichkeit fahre ich sanft wie ein Lamm. Die Bruchköbeler Bußgeldstelle ist mein Zeuge. Ich bitte also um Verständnis dafür, wenigstens virtuell rasen zu dürfen.

Hin und wieder müssen sich Männer, wenigstens im Geiste, ein wenig austoben. Manche machen es im Fussballstadion, andere ballern vor dem heimischen PC um die Wette, oder hacken Holz, oder formulieren wüste Leserbriefe gegen irgendwen. Wieder andere haben es mit dem Autofahren. Das Auto, des Mannes liebstes Spielzeug. Dicht gefolgt übrigens von einem anderen technischen Gerät, dem Rasenmäher. Rasenmäher bekommt man übrigens inzwischen auch schon als Fahrgerät mit Motor, Sitz und Lenker zu kaufen.

Wie schnell die wohl fahren?

Größer

Vielleicht kennen Sie das auch: Manchmal, im Supermarkt, kommen mir Orangen, Melonen, auch Äpfel oder Gurken bisweilen, irgendwie klein vor. Ich habe dann das Gefühl, früher sei das Obst größer gewesen.

Letzthin zum Beispiel nahm ich eine Wassermelone zur Hand, wog sie bedächtig hin und her, und fand das Obst dann einfach zu klein, legte es schliesslich wieder zurück ins Regal. Ja, früher scheinen diese Früchte größer gewesen zu sein.

Und wenn man richtig darüber nachdenkt, dann ist es ja auch in der Tat so gewesen: Früher, als kleiner Bub, als kleines Mädchen, da hatte man nun mal kleinere Hände. Alle möglichen Dinge waren einem damals folglich als groß, als riesig erschienen.

Daran kann man wieder einmal sehen, wie unsere Kindheitserlebnisse bis in unsere heutige, erwachsene Gegenwart hineinzuwirken vermögen. Immer wieder muss man als Erwachsener die Erfahrung machen, dass die Apfelsinen früher voluminöser, also wahrscheinlich auch besser gewesen sind.

Man lebt somit heute, als Erwachsener, mit der ständigen Erwartung einer Enttäuschung, sobald man sich dem Obstregal nähert. Was für ein verhutzeltes Obst die heute wieder anbieten. Bei manchen Leuten wächst sich diese in ihrem Grunde pessimistische Erwartungshaltung bisweilen sogar zu einer rundum negativen Lebenseinstellung aus. Womöglich sogar zu einer Neurose. Solche Leute sind mit nichts zufrieden zu stellen, wollen immer mehr, immer Größeres, und das auch noch jetzt sofort und ohne Warten (wohl, weil Mama auch früher schon bei jedem Gieks angerannt gekommen ist).

Ich vermute, dass hier die Gründe dafür zu finden sind, warum, bisweilen unter Einsatz modernster Gentechnik, immer größere Früchte gezüchtet werden müssen. Oder warum zum Beispiel die Hamburger immer größer werden (mittlerweile gibt es nicht mehr nur Doppel-, sondern bereits Dreifachburger). Oder warum heutzutage die Autos zu riesigen Geländewagen aufgepumpt werden, bis sie schliesslich so aussehen wie große Versionen der kleinen Matchbox-Autos, mit denen wir früher gespielt haben.

Warum also scheint alles immer größer werden zu müssen? Ich für mein Teil, ich glaube, es stecken unsere nicht bewältigten Kindheitserfahrungen dahinter. Früher, als wir Kinder gewesen sind, war alles nicht nur besser, sondern eben auch größer. Und die Zeiten sind deswegen besser gewesen, weil alles größer war.
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