9
Apr
2016

Am Schmelzweiher

Der Abstieg war beschwerlich, weil der Regen den Boden aufgeweicht hatte, und weil der schmale Pfad auch sonst ziemlich schlecht begehbar war. Der Pfad wurde nicht oft benutzt. Der Boden war an manchen Stellen glitschig, und wenn man auf dem abschüssigen Weg das Gleichgewicht verlor, dann waren jedenfalls die Kleider reif für die Wäsche.

Es war der Sommer ’71, ein Nachmittag nach einer durchregneten Nacht. Inge, Michi und Norbert waren auf dem Weg zu dem See, der innerhalb eines kleinen Waldstücks am Rande des Dorfes lag, genauer gesagt, inmitten einer wild zugewucherten, trichterförmigen Senke von vielleicht dreihundert Metern Durchmesser. Es verschlug nur selten jemanden hierher. Wenn man die Karte von Bruchköbel studierte, dem kleinen Ort, auf dessen Gemarkung sich dieses Stück Wildnis befand, dann konnte man erkennen, dass das Gewässer dort als „Schmelzweiher“ ausgewiesen war. Über diese Zweckbenennung hinaus hatte der Weiher jedoch keine eingängige Bezeichnung. Das Gewässer war am Ort sogar ziemlich unbekannt. Viele Einwohner reagierten erstaunt, wenn man ihnen von der Existenz des kleinen, verwilderten Sees erzählte, der da angeblich am Rande ihres verträumten Dorfes existierte.

Das Gebiet war auf allen Seiten von Bäumen, dichtem Buschwerk und Brombeergewächsen umgeben. Die Gemeindeverwaltung hatte einen Zaun um das Gelände ziehen lassen, weil man es von Amts wegen als einen gefährlichen, für das Publikum unbegehbaren Platz eingestuft hatte - schwierig zu beaufsichtigen und zu überwachen.

Den Zaun hatten die drei bereits hinter sich gelassen. Sie kannten nämlich die Stelle, an der jemand ein großes Stück des Maschendrahtes herausgeschnitten hatte. Um überhaupt bis zu dem Zaun gelangen zu können, musste man den Spielplatz am Siedlungsrand überquert haben, über einen Jägerzaun geklettert sein und dahinter den unscheinbaren Pfad ausfindig gemacht haben, auf dem sie nun schon eine ganze Weile entlang wanderten.

Inzwischen waren sie dem Seeufer schon ziemlich nahe gekommen, obwohl davon noch nichts zu sehen war.

Sie waren auf dem Weg zu ihrer geheimen Hütte. Die hatten sie während des Sommers ’69 errichtet, also vor zwei Jahren. Die Hütte war seit jener Zeit zu ihrem Treffpunkt, zu ihrem gemeinsam gehüteten Geheimnis geworden. Niemandem sonst hatten sie seither davon erzählt. Noch nicht mal ihren Eltern. Die hätten sowieso die Augenbrauen bedenklich nach oben gezogen angesichts des Umstands, dass sich ihre Kinder am Nachmittag auf einem amtlicherseits verbotenen Gelände herumtrieben, ohne Aufsicht, noch dazu in der Nähe eines dunklen Weihers mit ungesichertem und wild bewachsenem Ufer.

Die Stelle, an der sie ihre Hütte erbaut hatten, befand sich weiter unten, in der Nähe des Sees. Ihre Hütte war bislang unentdeckt geblieben. Ein einziges Mal nur hatten sie eine Gruppe älterer Jungs beobachten können. Die hatten sich am gegenüberliegenden Ufer zu schaffen gemacht, waren aber bald wieder verschwunden.

Damals, im 69er Sommer, als sie ihre Hütte errichtet hatten, waren die drei zu Freunden geworden. Für den Bau hatten sie Bretter herbeigeschleppt und sogar ein altes Stück Wellpolyester für das Dach besorgt. Herausgekommen war ein Gebäude mit einer Türöffnung und einem kleinen Fenster, in dem man, immerhin, bei Regen trocken bleiben konnte. Beim Bau ihres Häuschens hatte Inge entdeckt, dass ihr das Spielen mit Jungs tausendmal mehr lag als mit ihren langweiligen Schulkameradinnen. Manchmal waren sie fast an jedem Nachmittag der Woche „zu unserer Hütte“ gegangen, bisweilen hatten aber auch längere Pausen zwischen ihren gemeinsamen Besuchen gelegen. Die Hütte war ihre gemeinsame Zuflucht. Hier gab es keine Eltern, die einen zum Küchendienst verpflichteten, keine Lehrer, die einen im Sportunterricht an den Ohren zogen, wenn man nicht richtig über den Bock gesprungen war, keinen Hausmeister, der einen vom Rasen herunterjagte und mit einer „Anzeige“ drohte.

Sie erreichten jetzt das dichte Gestrüpp, welches ihre Hütte bislang so wirksam vor den Blicken neugieriger Besucher verborgen hatte. Norbert teilte das Geäst und schlüpfte geduckt hindurch. Die anderen folgten ihm.

Ihr kleines Häuschen stand wie immer da, inmitten einer kleinen Lichtung, von Unkraut umwuchert.

Wie immer.

Oder doch nicht.

Ihre Aufmerksamkeit wurde durch die Puppe gebannt, die auf dem Grabstein lag. Inges Puppe, die sie „Gertrud“ genannt hatte. Gertrud, so hieß Inges Oma.

“Gertrud“ war eine von diesen antiquierten Plastikpuppen, wie sie schon lange nicht mehr verkauft wurden. Puppen dieser Art fand man nur noch bei manchen Großmüttern auf dem Sofa, oder auf dem Flohmarkt. Der Körper war ganz aus hautfarbenem Hartplastik, mit beweglichen Beinen und Armen. Die Puppe hatte noch nicht mal Haare, stattdessen waren die Haare als eingefärbte, inzwischen ausgebleichte Reliefstruktur auf dem Kopf nachgebildet. Michi und Norbert fanden die Puppe altmodisch, aber trotzdem war sie seit dem vergangenen Sommer so etwas wie ihr gemeinsames Maskottchen geworden. Immer, wenn sie hierher gekommen waren und die Puppe unversehrt im Häuschen vorgefunden hatten, dann war ihnen gewiss, dass ihr geheimes Clubhaus unentdeckt geblieben war.

Aber das war heute nicht so. Sie betrachteten die Puppe, und sie betrachteten den zerschlagenen Plastikkopf. Sie traten näher heran an den Stein, auf dem die Puppe lag.

Bei dem Stein handelte es sich um einen quaderförmigen, tief schwarzen Grabstein. Seine Kanten waren etwa fünfzig Zentimeter lang, und er glänzte speckig. Die Flächen waren glatt bearbeitet, und auf der nach oben liegenden Fläche war die von einem Steinmetz eingearbeitete Inschrift zu lesen: „Ruhe sanft, Von allen Leiden, In der stillen Gruft, bis dich einst zu jenen Freuden Dein Erlöser ruft.“ Unter dem Spruch stand eine Psalmenbibelstelle. Es gab jedoch keine Namensinschrift, etwa wie „Hier ruht...“, wie man sie immer auf Grabsteinen lesen konnte.

Über die Herkunft dieses Steines hatten sie sich die abenteuerlichsten Geschichten zusammengereimt, aber im Grunde war es ihnen ein Rätsel, wie der Stein wohl einst seinen Weg hierher gefunden haben mochte. Der Friedhof des Dorfes befand sich kilometerweit von dem Ort entfernt, an den es diesen namenlosen Grabstein verschlagen hatte.

„Jemand muss hier gewesen sein.“ Michis Stimme zitterte ein bisschen.

„Gute Gertrud!“ seufzte Inge. Sie begann damit, die Splitter des Puppenkopfes zusammenzuklauben. Norbert betrachtete das große Loch im Kopf der Puppe. "Die ist nicht mehr zu retten, Inge. Die kannste vergessen."

Während ihre Freundin Inge sorgsam die Puppensplitter zusammenlas, begannen Michi und Norbert, sich umzusehen. Weitere Spuren fremder Anwesenheit konnten sie nicht entdecken. Auch innerhalb ihrer Hütte sah alles normal aus. Bis auf die Tatsache, daß die Puppe eben nicht mehr dort drin saß, sondern von irgendeinem Idioten zertrümmert worden war.

Nach einiger Zeit richtete sich Inge auf. Sie sagte: „Wir müssen Gertrud begraben!“ Die beiden Jungen blickten sie erstaunt an.

Inges Blick fiel auf den Grabstein. „Wir begraben sie hier. Neben dem Stein!“ sagte sie. „Dann hat der Stein endlich ein Grab, zu dem er gehört.“ - „Wir haben keine Schaufel.“ - „Dann graben wir mit den Händen. Es muss nicht tief sein. Die Erde ist hier ganz weich, wie Waldboden.“ Inge schob entschlossen Laub und Zweige beiseite und grub ihre Hände in die Erde. Norbert hockte sich neben sie und tat es ihr gleich. Michi besorgte ein kleines Brett aus der Hütte, womit er die Erde zur Seite schürfen konnte. So gelang es ihnen, eine Vertiefung zu graben, in die sie schließlich die Puppe und die Scherben, aus denen Gertruds Köpfchen einst bestanden hatte, hineinbetteten. Dann schoben sie die Erde über die Puppe.

Sie richteten sich auf, und Inge sagte: „Jetzt muß jemand ein Gebet sprechen!“ – „Was denn für’n Gebet?“ fragte Michi. Inge deutete auf die steinerne Inschrift und sagte zu Michi: „Da steht doch eins. Das passt. Los, mach du’s!“ – Michi zögerte. „Meinst du das im Ernst?“ „Klar mein ich’s im Ernst!“, sagte Inge. Die beiden Jungs sagten aber nichts. Inge sah beide an: „Na, was ist los mit euch? Könnt ihr nicht mal ein Gebet sprechen, für unsere Puppe?“ Aber keiner brachte einen Ton heraus. Die Jungs guckten sich verlegen an. Nach einer kurzen Weile begann Inge selbst, das ’Gebet’ über dem kleinen, unscheinbaren Grabhügel zu sprechen, den sie errichtet hatten – langsam und leise, die Grabsteininschrift rezitierend: „Ruhe sanft... von allen Leiden.... in der stillen Gruft, bis dich einst...“

Ey, was ist’n das für’n Betverein hier?“

Die Stimme ließ sie herumfahren. Am Eingang zu ihrem geheimen Platz stand Zitzeun. Der dumme Zitzeun.

Zitzeun, das Arschloch, dachte Michi.

Sie mussten den Pfad gefunden haben.

Sie kannten Zitzeun aus der Schule. Er besuchte die Klasse über ihnen. Er war ein großer und kräftiger, dicklicher Kerl, der Michi und Norbert um einen Kopf überragte. Hinter Zitzeun stiegen zwei seiner Schulhofsgefährten aus dem Gebüsch heraus. Michi kannte ihre Namen. Der eine, ein wie Zitzeun ziemlich groß gewachsener Blonder, hieß Bernd. Er hatte mal Norbert die Luft aus dem Reifen gelassen, aber Norbert hatte sich damals nichts zu sagen getraut. Der zweite Freund Zitzeuns hieß Ede. Von dem, einem schmalen, blassen Typ, wusste Michi, dass er stotterte und eigentlich ein eher schüchterner, stiller Typ war.

’Der Dumme Zitzeun’. So nannten ihn die meisten Schüler, denn Zitzeun war dafür bekannt, daß er in der Schule ernste Probleme mit den Noten hatte, und dass er seinen Mitschülern, insbesondere denen aus den unteren Klassen, bisweilen unangenehme Probleme bescherte. Besonders die kleineren Jungs hatten Angst davor, sich mit Zitzeun und seinen Freunden anzulegen. Zitzeun und seine Freunde waren Typen, die auf Streit aus waren, das wussten alle. Und anscheinend hatte der dumme Zitzeun darüber hinaus auch außerhalb der Schule Probleme. Einmal waren Polizisten in die Schule gekommen, weil sie Zitzeun und seine Jungs im Verdacht gehabt hatten, nachmittags Steine auf die Bahngleise auf dem Bahndamm gelegt zu haben. Um sie durch die Gegend schwirren zu lassen, wenn ein Zug drüberfuhr, oder so. Das hatten jedenfalls die anderen Schüler erzählt. Zitzeun und ein paar andere waren während des Unterrichts einer nach dem anderen aus der Klasse geholt worden, zu einem richtigen Verhör. Wie es hieß, sollen sie damals alle zu Hilfsarbeiten beim Roten Kreuz verdonnert worden sein.

Zitzeun ging man also besser aus dem Weg, vor allem, wenn man einen Kopf kleiner war. Aber das würde hier schwierig werden, dachte Michi.

„Ist das eure Bude?“ fragte Zitzeun, auf die Hütte deutend, und die drei nickten. - „Also, Leute, das is’n Schrotthaus.“ Er trat zu dem Häuschen und versetze ihm einen so derben Tritt, daß es bedenklich wackelte und das Holz ächzte.

Inge sah zu Michi und Norbert. Dann fragte sie, zu Zitzeun gewandt: „Wart ihr das, die die Puppe kaputtgemacht haben?“

Zitzeun sah zu seinen Freunden. „Hey, welche Puppe denn, Puppe?” fragte er. Seine Freunde lachten.

„Du weißt, was ich meine!“ antwortete Inge. Ihre Stimme zitterte ein bißchen. So stand sie manchmal auch vor ihrem Papa, der ein strenger Mann war und der es nicht gerne sah, wenn seine Tochter mit Michi und Norbert, „diesen Nichtsnutzen“, herumzog. Aber jetzt hätte sie gewünscht, ihr Papa wäre hier gewesen.

Zitzeun kratzte sich demonstrativ am Kopf. „Hmmm. Lass ma überlegen.“ Er rollte theatralisch mit den Augen. „Ach so, die. Die Puppe. Konnt’ ja keiner wissen, daß die irgend jemandem gehört. Daß die euch gehört.“ Er lachte. Dann setzte er eine ernste Miene auf und sagte:„Also, das war so: die ist kaputtgegangen.“ Jetzt grinste er, und schaute triumphierend zu seinen Begleitern. Die kicherten mit. Kicherten dreckig, dachte Michi.

Die grössten Arschlöcher vom ganzen Schulhof, und ausgerechnet mit denen stehen wir hier mutterseelenallein herum, dachte Michi verzweifelt. So eine Scheisse. Wir müssen gucken, daß wir hier wegkommen.

Zitzeun fragte: „Habt ihr mal zufällig ’n Fuffziger? Oder ’ne Fluppe?“ Seine Kumpane näherten sich, und Michi sank das Herz in die Hose. Abhauen ist nicht, dachte er. Ringsherum nur Gebüsch, und den Weg zum Pfad versperrten ihnen diese Arschlöcher. Scheisse. So eine Scheisse. Er sah zu dem Brett, mit dem sie gegraben hatten. Es lag neben ihm, auf dem Grabstein.

„Wir haben kein Geld dabei“, sagte Michi, und Norbert nickte ängstlich.

“Wir gucken selber mal nach“, sagte Zitzeun gepresst und sprang unvermittelt auf Michi zu. Zitzeuns Typen bewegten sich ebenfalls vorwärts. Im selben Moment bückte sich Michi, griff nach dem Brett, riss es nach oben. Schlug es dem verdutzten Zitzeun direkt aufs linke Ohr. Zitzeun taumelte zur Seite, fasste sich auf die Wange, stieß dabei einen unterdrückten Ton aus, der sich wie „Ou!“ anhörte, und starrte fassungslos auf Michi. Die anderen hielten für einen Moment inne. Michi sprang mit drei, vier Sätzen Sätzen auf das Gebüsch zu, rannte auf den Pfad und bog nach unten ab, zum Seeufer.

Er hörte Zitzeun hinter sich her rufen: „Drecksau, ich krieg dich!“ und rannte in wilder Hast den Pfad entlang, das Brett immer noch in der Hand. Er sah sich um. Zitzeun war ihm auf den Fersen. Michi erreichte das Seeufer, schwenkte scharf nach rechts und sah einen Moment später Zitzeun erscheinen. Der hatte den plötzlichen Knick des Weges schlecht eingeschätzt und kam mit den Füßen ins Wasser, stolperte über einen alten Holzstamm und geriet ins Straucheln. Im nächsten Moment ging er in die Knie, sank seitwärts nieder, mit einem Arm nach Halt fuchtelnd. Dann saß Zitzeun im brackigen Wasser und schrie auf. Er stützte sich mit dem Arm auf, um wieder hochzukommen, aber in dem Uferschlamm rutschte er abermals weg, jetzt erst recht in das Brackwasser hinein. Er quiekte wie ein Schwein. Anscheinend schien ihn das verschlammte Wasser in echte Panik zu versetzen.

Michi sprang herbei, hob das Brett und schlug es Zitzeun, der sich gerade aufrappeln wollte, mit voller Wucht ins Gesicht.

Zitzeun stieß einen gurgelnden Laut aus, taumelte und platschte mit seinem ganzen Körper ins Wasser zurück. Durch Michis gesamten Körper wogte ein wildes, triumphierendes Gefühl. Zitzeun begann erneut zu schreien, richtig zu brüllen, diesmal vor Wut und Schmerz zugleich.

„Zitze? Was ist denn los, Zitze?“ Die Stimmen der anderen waren zu hören, bloß weg jetzt, dachte Michi. Er warf das Brett zur Seite. Er lief noch ein Stück am Ufer entlang und schlug sich nach einigen Metern seitwärts in die Büsche. Sein Arm, der Arm, mit dem er Zitzeun das Brett ins Gesicht gehauen hatte, zitterte. Michi schwitzte und atmete schwer. Er blieb eine Weile still stehen. Dann bewegte er sich langsam wieder zurück, durchs Gebüsch, in die Richtung der Stelle, an der er Zitzeun so übel mitgespielt hatte. Bald hörte er die Stimmen der Typen wieder deutlicher. Aus dem Verborgenen konnte er Zitzeun und seine Freunde nur undeutlich erkennen, zumal es inzwischen zu dämmern begonnen hatte. Zitzeuns Kumpane bemühten sich, ihren Anführer zu beruhigen, der über und über mit Dreck und Schlamm bedeckt zwischen ihnen stand und unablässig vor sich hinfluchte. Anscheinend bezog er auch seine Freunde in seine Beschimpfungen und Beschuldigungen mit ein, denn deren wenige Äußerungen hatten einen entschuldigenden Tonfall. Und Zitzeun hatte es offenbar böse erwischt, denn das Geschmiere in seinem Gesicht war nicht bloß Schlamm, sondern richtiges Blut.

Michi bewegte sich langsam weiter zurück in die Büsche, kletterte eine Böschung hinauf und kam schließlich wieder auf den Pfad. Er rannte zurück zur Hütte. Wo waren seine beiden Freunde? „Inge? Nopf?“ Keine Antwort. Er sprang wieder auf den Weg, lief weiter nach oben, in der Hoffnung, die Freunde hätten denselben Gedanken gehabt. Nach einigen Minuten hatte er das Zaunloch erreicht, hielt kurz inne und lauschte. Von unten war nichts zu hören, offensichtlich hatten Zitzeun und seine Freunde noch genug mit sich selbst zu tun.

„Michi, bist Du’s?“ Das war Inges Stimme. „Ich bin hier, am Zaun!“ antwortete Michi. Die beiden kamen jetzt aus ihrem Versteck hervor. „Wir sind durchs Gebüsch nach hier oben durch. Wollten gerade nochmal runtergehen. Wußten ja nicht, ob sie dich erwischt haben“, sagte Norbert. „Nein, kein Problem. Machen wir, daß wir hier wegkommen!“ antwortete Michi. Oben angekommen, wählten sie Nebenwege, um in das Viertel zu gelangen, in dem sie wohnten. Michi erzählte ihnen das Nötigste, und alle hatten im Verlauf seiner Schilderung besorgte Gesichter bekommen. „Wer weiß, was das morgen wird in der Schule“, hatte Norbert gesagt. „Der wird uns bestimmt noch Ärger machen.“ Dann hatten sie sich voneinander verabschiedet.

Ihre Eltern erfuhren von dem Vorfall nichts.

Den Rest der Woche war Zitzeun nicht in der Schule erschienen. Sonderbarerweise ließen sich Zitzeuns Freunde nichts anmerken. Sie ignorierten Inge, Michi und Norbert vollständig. Als ob gar nichts geschehen wäre. In der folgenden Woche war Zitzeun zwar wieder in der Schule, aber während der nur noch kurzen Zeit bis zu den großen Ferien kam es zu keiner Begegnung mehr mit ihm. Michi, Inge und Norbert plagte zwar noch eine Zeitlang die Sorge um, daß es irgendwann mal auf dem Nachhauseweg Probleme mit Zitzeun geben würde. Aber nichts dergleichen geschah.

Nach den Ferien war Zitzeun von der Schule verschwunden. Wohin, hat eigentlich niemanden interessiert.

Zum Schmelzweiher sind Inge, Michi und Norbert nie mehr gemeinsam hinabgestiegen. Nur Michi ist während der Ferien noch ein einziges Mal alleine dort gewesen. Er stellte fest, daß ihre Hütte in der Zwischenzeit völlig zerstört worden war. Nur der Grabstein lag immer noch genauso dort herum wie eh und je, direkt neben dem Puppengrab.



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Nachtrag

In die Erzählung sind Details einer Geschichte eingeflossen, die vor einigen Jahren unter Bruchköbeler Schulkindern erzählt wurden. Ich habe allerdings einige der grausligeren Details unberücksichtigt gelassen.

Den Quälgeist "Zitzeun" habe ich leider selbst gekannt und erduldet.

Den erwähnten Schmelzweiher gibt es wirklich, ebenso konnte man in dessen Nähe vor ein paar Jahren den beschriebenen „Grabstein“ finden. Von dem Hügel, der sich neben dem echten Stein befindet, erzählten damals manche Kinder, dass der in Wirklichkeit ein Grab sei, was noch eines der eher harmlosen Details der erwähnten Kindergeschichte darstellte.

Ob der Zugang zum Schmelzweiher heute noch so möglich ist wie in der Geschichte beschrieben, weiss ich nicht. Mit Google ist er jedenfalls leicht zu orten. Falls es Sie interessiert, dann forschen Sie ein bißchen nach dem beschriebenen Pfad, und dem Loch im Zaun. Sofern es noch vorhanden ist. Bruchköbel hat eine pflichtbewusste Stadtverwaltung und ummsichtige Bauhof-Mitarbeiter.

Bruchköbel, im Juni 2005 und im April 2016

Jürgen Dick

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