Frühstücksfriede

Eine meiner regelmäßig studierten Tageszeitungen macht seit Wochen intensive Werbung für ein bedeutsames Ereignis.

Man wird nämlich in dieser Woche die Zeitung auf das sogenannte „Tabloid“-Format umstellen. Darunter ist zu verstehen, daß die Zeitung in Zukunft nur noch halb so groß, dafür aber doppelt so dick erscheinen wird. Das Blatt kann man dann auch im Zug oder im Bus umblättern, ohne daß der Nachbar sich gestört fühlen muss, heisst es.

Auffallend ist, daß meine Zeitung für diesen Vorgang eine außergewöhnlich aufwendige Überzeugungs- und Schulungskampagne gefahren hat. Nahezu an jedem Tag in den vergangenen Wochen gab es für die Leser Sonderseiten zu diesem besonderen Ereignis zu lesen. Mit der Umstellung des Formates werde nicht nur die Handlichkeit, sondern auch gleich der gesamte Zeitungsinhalt besser, hieß es. Alles werde viel klarer und völlig neu strukturiert, sei ab nun übersichtlicher zu erfassen, und komme viel aktueller ins Haus.

Man wolle dem Zeitungskunden auch nicht mehr zumuten, daß das, was er morgens auf Seite 1 zu lesen bekomme, die Schlagzeilen aus den „Tagesthemen“ vom Vortag seien. Bei dieser Mitteilung musste ich stutzen. Was, so dachte ich, wenn die Ereignisse dem so postulierten Eifer meiner Zeitungsredakteure hinterherlaufen? Wenn also so viel Neues, wie angekündigt, über Nacht sich gar nicht einstellen will? Wenn zum Beispiel die Eintracht 0:3 verloren hat, und ich das am Abend in den „Tagesthemen“ erfahren habe, was für eine Meldung will meine Tageszeitung dann daraus am nächsten Morgen fabrizieren?

Na ja. Ich werde mich überraschen lassen.

Am Samstag übrigens lag meiner immer noch im altmodisch alten Format gedruckten Tageszeitung schon mal ein Probeexemplar der neuen „Tabloid“-Version bei. War schmuck anzusehen. Nicht schlecht, dachte ich.

Dann aber entdeckte ich, daß die neue Zeitung nunmehr mit Heftklammern zusammengehalten wird. Da werde ich ein Problem bekommen. Beim Frühstück erweist es sich nämlich immer wieder als nützlich, der Ehegattin den Lokalteil abzugeben, damit man, um das übrige Weltgeschehen zu erfassen, in Ruhe den Politikteil, das Feuilleton und die Aktientabellen studieren kann.

Die neue Zeitung im „Tabloid“-Format ist aber mit Klammern zusammengeheftet, da wird es schwer mit dem Herausgeben des Lokalteils. Ich werde folglich meiner Tageszeitung den Tip geben, an die Kunden Werbegeschenke zu verteilen: kleine, praktische Heftklammernentferner, mit denen man das neuen Format „entklammern“ kann. Ich selbst besorge mir schon mal einen. Auf dass der Frühstücksfriede gesichert bleibe.

...und bewahre uns unsere Ängste...

Wir leben in einer ängstlichen Republik. Das ist mir gerade wieder einmal klar geworden, als ich vor ein paar Tagen den Warnhinweis auf dem Innenetikett meines Pyjamas zur Kenntnis nehmen musste. Unter dem Größenhinweis „XXL“ (ich trage gern bequem) steht dort zu lesen: „Keep away from fire“, also: „Vom Feuer fernhalten“. Von selbst wäre ich nie und nimmer auf den naheliegenden Gedanken gekommen, dass ein Pyjama vom Feuer, wo er sich bekanntlich entzünden kann, ferngehalten gehört.

Nach meiner Beobachtung haben übertriebene Warnhinweise, die das eigentlich Selbstverständliche zum Thema erheben, in den letzten Jahren überhand genommen. Wer zum Beispiel die Gebrauchsanweisungen irgendwelcher technischer Geräte liest, und dort speziell die sogenannten „Sicherheitshinweise“, der dürfte sich wundern, für wie dumm er gehalten wird. In der Gebrauchsanleitung eines hundsgemeinen Toasters las ich beispielsweise: „Verlegen Sie das Anschlusskabel so, dass es niemanden stört.“ Klar. Wenn man mich mit dieser Ermahnung nicht extra davon abgehalten hätte, dann hätte ich das Kabel doch glatt mitten durchs Wohnzimmer gezogen, damit auch wirklich jedes Familienmitglied darüber stolpern muss und sich die Beine bricht. Da bin ich dann doch dankbar, dass ich vermittels der Sicherheitshinweise in meiner Toaster-Gebrauchsanleitung vor mir selbst geschützt worden bin.

Ich vermute übrigens, dass die allgemeinen Ängste vor den wirklich großen Gefahren, wie zum Beispiel dem Waldsterben, dem Terror, dem Klimawandel, dem Islam, dem Feinstaub oder dem nächsten Wetterumschwung, noch lange nicht das ganze Bild unserer kollektiven Ängste widerspiegeln. Auch im Kleinen, also auch in den Gebrauchsanweisungen unserer Toaster und auf den Etiketten unserer Pyjamas, sind die Widerspiegelungen unserer alltäglichen Ängste und Besorgnisse aufzufinden.

Wir kommen einfach nicht von ihnen los, von unseren Ängsten.

Ich vermute sogar: Wenn es plötzlich „Peng!“ machen würde, und alle unsere Ängste wären im selben Moment, endlich, mit einem Schlag, aus der Welt geschafft, dann würden wir uns wahrscheinlich leer und nackt vorkommen.

Das Leben erschiene uns irgendwie sinnlos, ohne unsere vertrauten Ängste.

Aber Gottseidank ist es noch nicht so weit gekommen. Unsere Ängste sind weiterhin mit uns. Sage also keiner, es gäbe nichts Verlässliches mehr auf dieser Welt.

Größer

Vielleicht kennen Sie das auch: Manchmal, im Supermarkt, kommen mir Orangen, Melonen, auch Äpfel oder Gurken bisweilen, irgendwie klein vor. Ich habe dann das Gefühl, früher sei das Obst größer gewesen.

Letzthin zum Beispiel nahm ich eine Wassermelone zur Hand, wog sie bedächtig hin und her, und fand das Obst dann einfach zu klein, legte es schliesslich wieder zurück ins Regal. Ja, früher scheinen diese Früchte größer gewesen zu sein.

Und wenn man richtig darüber nachdenkt, dann ist es ja auch in der Tat so gewesen: Früher, als kleiner Bub, als kleines Mädchen, da hatte man nun mal kleinere Hände. Alle möglichen Dinge waren einem damals folglich als groß, als riesig erschienen.

Daran kann man wieder einmal sehen, wie unsere Kindheitserlebnisse bis in unsere heutige, erwachsene Gegenwart hineinzuwirken vermögen. Immer wieder muss man als Erwachsener die Erfahrung machen, dass die Apfelsinen früher voluminöser, also wahrscheinlich auch besser gewesen sind.

Man lebt somit heute, als Erwachsener, mit der ständigen Erwartung einer Enttäuschung, sobald man sich dem Obstregal nähert. Was für ein verhutzeltes Obst die heute wieder anbieten. Bei manchen Leuten wächst sich diese in ihrem Grunde pessimistische Erwartungshaltung bisweilen sogar zu einer rundum negativen Lebenseinstellung aus. Womöglich sogar zu einer Neurose. Solche Leute sind mit nichts zufrieden zu stellen, wollen immer mehr, immer Größeres, und das auch noch jetzt sofort und ohne Warten (wohl, weil Mama auch früher schon bei jedem Gieks angerannt gekommen ist).

Ich vermute, dass hier die Gründe dafür zu finden sind, warum, bisweilen unter Einsatz modernster Gentechnik, immer größere Früchte gezüchtet werden müssen. Oder warum zum Beispiel die Hamburger immer größer werden (mittlerweile gibt es nicht mehr nur Doppel-, sondern bereits Dreifachburger). Oder warum heutzutage die Autos zu riesigen Geländewagen aufgepumpt werden, bis sie schliesslich so aussehen wie große Versionen der kleinen Matchbox-Autos, mit denen wir früher gespielt haben.

Warum also scheint alles immer größer werden zu müssen? Ich für mein Teil, ich glaube, es stecken unsere nicht bewältigten Kindheitserfahrungen dahinter. Früher, als wir Kinder gewesen sind, war alles nicht nur besser, sondern eben auch größer. Und die Zeiten sind deswegen besser gewesen, weil alles größer war.

Die alten Lieder und was sie uns sagen

Meiner Ansicht nach bildet sich der Musikgeschmack der meisten Leute schon kurz nach der Pubertät heraus, also während derjenigen Lebensphase, in der Menschen ihre erste ernsthafte Liebe erleben, und, was natürlich dazugehört, ihre erste(n) ernsthafte(n) Enttäuschung(en) durchmachen müssen.

Seien wir doch mal ehrlich zu uns selbst: Die Lieblingssongs, die wir heute immer noch hören und die seitdem praktisch unser ganzes Leben bestimmen, stammen doch fast immer aus der Zeit, als wir 15, 16, 17 Jahre alt gewesen sind. Bei mir zum Beispiel ist das weltberühmte „Angie“ der noch weltberühmteren „Rolling Stones“ ganz eng mit den Gefühlen um eine unerreichbare blonde Bruchköbeler Schönheit aus den 70ern verknüpft.

Damals, als sich herauskristallisierte, dass das mit dem Mädel nicht so richtig was werden wollte, war das melancholische „Angie“ gerade in der „Bravo“-Hitparade und erklang praktisch aus jedem Radio. Und wiewohl meine Bruchköbeler „Angie“ eigentlich ganz anders hieß, traf das Lied dennoch genau meine Stimmung. Vermutlich werde ich deswegen auch heute noch manchmal ein bisschen schwerblütig, wenn „Angie“ aus irgendeinem Lautsprecher ertönt, und zwar besonders dann, wenn ich dazu noch ein Glas Chianti intus habe.

Ein anderer Song der Stones, und dazu meine erste Schallplatte überhaupt, war „Get off of my Cloud“. Das war eine wilde Nummer, die mich am Beginn meiner Pubertät beflügeln half, in jenen wilden Lebenstanz einzutreten, der bis heute noch nicht aufgehört hat. Ich bin damals manchmal extra in die Eisdiele am Kinzigheimer Weg gegangen und habe 10 Pfennig in die Musikbox geworfen, um die „Rolling Stones“ zu hören.

Die Rückseite von „Get off of my Cloud“ lautete übrigens „I’m free“, und schon damals, als Bub, bekam ich beim Anhören eine Ahnung davon, dass „I’m free“ durchaus das Zeug zu einem echten, wertvollen Lebensmotto haben könnte.

Wohl dem also, der den „Rolling Stones“ richtig zugehört und daraus fürs Leben gelernt hat. Und, übrigens, überhaupt konnte man damals, als Junge, eigentlich nur die Stones ernstnehmen, während die braven Beatles immer nur was für die Mädchen gewesen sind, und weswegen hier von den „Pilzköpfen“ aus Liverpool gar nicht erst die Rede gewesen ist.

Alles Spam oder was

Im Hinblick auf die ständig vorhandene Bedrohung durch den Terrorismus werden immer neue Ideen geboren.

Einer der neuesten diesbezüglichen Gedanken hat zum Ziel, praktisch jeden Computer in irgendeinem Wohnzimmer online überwachen und durchsuchen zu können.

Daß dadurch ausgerechnet Terroristen entdeckt werden, halte ich allerdings für eher zweifelhaft. Schon die bloße Ankündigung wird entsprechende Recherchen nach Abwehrmaßnahmen ausgelöst haben. Die Erfolgsmeldungen werden sich also wahrscheinlich in engen Grenzen halten.

Und ich glaube ohnehin, dass die Zielrichtung dieser Maßnahme eine gänzlich andere ist, als die vorgebliche. Es wird wohl vor allem darum gehen, die auf Privatcomputern illegal heruntergeladene Popmusik effektiver als bisher aufzuspüren. Wer die Zeitung liest, wird wissen, dass die Musikindustrie in dieser Hinsicht Ansprüche hat. Gegen junge Leute, die sich für ihren mp3-Player Musik herunterladen, sind bereits zahlreiche Verfahren mit zum Teil drastisch hohen Schadensersatzsummen eingeleitet worden.

Und von wegen der Aufklärungsrate bei der Onlinekriminalität wird man ohnehin für jede Erfolgsmeldung dankbar sein. Online-Computerdurchsuchungen können da so verkehrt nicht sein, wird man sich gedacht haben.

Eine andere Form der Onlinekriminalität jedoch, die bekommen unsere Terrorismus-Sicherheitsexperten so gar nicht in den Griff. Ich meine damit die allgegenwärtige Spam-Vermüllung der e-mail-Kommunikation. All diese unerwünschten e-mails mit den Viagra- Angeboten, den Viren, Trojanern und Rootkits undsoweiter.

Diese Plage kostet die Wirtschaft in jedem Jahr Unsummen für Abwehrprogramme und Beschäftigungszeit der Angestellten. Mit diesem lästigen Thema lassen uns unsere Sicherheitsexperten nämlich ganz jämmerlich alleine.

Neben den grandios anmutenden Ankündigungen zur Verbesserung der Terroristenabwehr gehen die kläglichen Misserfolge bei der Bekämpfung ganz alltäglicher Plagen ganz sang- und klanglos unter. Grandioser Politiker-Aktivismus sucht sich seine Themen selbst und kommt auf diese Weise eben viel wirkungsvoller, als wenn er sich mit so was Alltäglichem wie der Spam-Vermüllung herumschlagen müsste.

Mitbestimmung im Restaurant

„Da muss ich erst fragen.“

Die Kellnerin, die mit dieser Aussage unseren Wunsch nach einem kleinen Glas roten Weines zunächst einmal in die Parkposition beförderte, sah ein wenig verlegen drein und begab sich dann hinter den Tresen, um sich eine Genehmigung dafür zu holen, auch Weingläser mit nur halbem Inhalt an uns ausschenken zu dürfen.

In der Karte des Restaurants, in dem wir gerade saßen, sind nur große Gläser aufgeführt, die 0,2 l Inhalt haben. Unsere Frage nach der halben Portion hingegen schien zwar nicht uns, jedoch einer Kellnerin dieses Restaurants so außergewöhnlich, dass sie nicht so einfach stante pede beantwortet werden konnte.

Wir saßen ein bisschen bedröppelt da. So, als hätten wir etwas Ungehöriges verlangt.

Ich wollte ihr noch hinterher rufen, dass wir ja auch ein großes Glas nehmen und es dann eigenhändig auf zwei Gläser verteilen können, wenn unser Wunsch zu viele Umstände macht... aber nach ein paar Minuten kam unsere Kellnerin mit einem Tablett und zwei wunschgemäß halb gefüllten Gläsern zurück. Sie sah erleichtert aus. Irgendwie tat sie mir leid.

Ich meine, eine Mitarbeiterin, die in jeder Minute direkt an der Kundenfront steht und über eine solche, im Grunde doch unkomplizierte Frage eines Gastes nicht selbständig entscheiden darf, die erzählt im Grunde eine ganze Geschichte über den Führungsstil in dem Haus, in dem sie beschäftigt ist.

Dass es kleinen Mitarbeitern oftmals verwehrt ist, bei den großen Entscheidungen mitreden zu dürfen, ist ja nun nichts Neues.

Aber wenn kleine Mitarbeiter noch nicht einmal bei den kleinen Entscheidungen mitreden dürfen, beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Anscheinend traut ihnen ihr Chef nichts zu, vermute ich dann. Anscheinend hat hier der Chef in jeder auch noch so klitzekleinen Angelegenheit das letzte Wort, und er vertraut seinen Mitarbeitern im Grunde nicht.

Andererseits, vielleicht sehe ich die Angelegenheit auch ein wenig zu streng. Aber es ist mir eben unangenehm, wenn ich in einem Restaurant erlebe, dass mein Sonderwunsch bei der Bedienung seelischen Stress auslöst. Vielleicht ist meine Einstellung in der Hinsicht auch schlicht ein bisschen altmodisch.

Flatrate

Das Rennen um den Titel „Wort des Jahrzehnts“ dürfte wahrscheinlich die Wortschöpfung „Flatrate“ machen.

Man liest und hört davon überall. Von praktisch allem gibt es mittlerweile eine Flatrate. Es begann mit den Internet-Tarifen, damals, als man seine Internet-Rechnung noch in Pfennig-pro-Minute abgerechnet bekam.

Eine Flatrate zu haben, bedeutet, dass man einen Preis zahlt, und danach so lange darf wie man will: Surfen, Chatten, Telefonieren, Fernsehgucken. Neuerdings sogar: Trinken („All-you-can-drink“), was im Rahmen der Diskussion um das Trinkverhalten mancher Jugendlicher zu einiger Kritik geführt hat.

Mit der Flatrate gehören lästige Sorgen um die Höhe der Endrechnung der Vergangenheit an. Aus kaufmännischer Sicht ist die Flatrate ein Instrument aus dem Marketing, mit dem die Kunden an den Anbieter gebunden werden. Einmal für die Flatrate bezahlt, steigt man als Kunde nicht mehr so leicht um. Der Vorteil für den Kunden besteht in der Überschaubarkeit und Planbarkeit. Man zahlt seinen Beitrag, und Ruh’ is’.

Als frühe Vorläufer der Flatrate würde ich übrigens die Dauerkarte bei der Eintracht ansehen (gab’s schon in den Siebzigern) oder auch die Angebote mancher Restaurants, wo es auch früher schon für 25 Mark freien Zugriff aufs Buffet gegeben hat. Heute müssen wir das in Euro rechnen, aber na gut. Inflation ist sowieso immer.

Ich vermute jedenfalls, dass der Trend zur Flatrate unvermindert anhalten wird. Ich frage mich zum Beispiel, warum findige Geschäftsleute nicht schon längst Flatrates für den Schuhkauf, den Kinobesuch oder die Steuerberatung anbieten. Die Möglichkeiten, die hinter dem Konzept mit der Flatrate stecken, scheinen mir jedenfalls noch lange nicht ausgereizt, und ich glaube, man kann für die Zukunft noch mit vielen Ideen dazu rechnen.

Verdrossenheit

Immer wieder einmal macht das Wort von der „Politikverdrossenheit“ die Runde.

Es findet seine Erwähnung meist im Gefolge solcher Wahlen, bei denen die Wahlbeteiligung niedrig gelegen hat. Aber auch im Angesicht immer wiederkehrender Dauerthemen (die Gesundheitsreform war zum Beispiel so eins) scheint der Publikumszuspruch mit der Zeit so sehr nachzulassen, daß schliesslich irgendwann die Gemütskrankheit „Politikverdrossenheit“ diagnostiziert werden muss.

Und neuere Forschungen haben dazu noch eine Unterform der Politikverdrossenheit ans Licht gebracht, die sogenannte Parteienverdrossenheit, die oft in einem Atemzug mit Vokabeln wie „Dienstwagen“, „Diäten“, „Parteienskandale“ genannt wird.

Diese Form der Verdrossenheit hat wiederum ganz praktische Folgen. So ist die Anzahl der Mitglieder in praktisch allen großen Parteien seit 1990 deutlich gesunken. Und es scheint insbesondere die Jugend ganz besonders verdrossen zu sein, denn vielerorts wird eine zunehmende Überalterung in den Parteien beklagt.

Das ist deswegen schade, weil doch eigentlich die Jugend es ist, die das Reservoir für neue gesellschaftliche Impulse und Ideen bildet.

Im Neuen, im Wandel, in der Beschleunigung, in der kreativen Unrast – dort liegt das spezielle Interesse der Jugend. Dem Alter hingegen ist eher ein Hang zum Bewahrenden eigen, zum Konservativen, manchmal auch zum Langweiligen.

In einem Land, in dem eine Vokabel wie „Reformstau“ zum Stammwortschatz gehört, könnte also etwas nicht stimmen mit der Beteiligung der Jugend an der Politik. Eine Gesellschaft, in der die Jugend auf Mitgestaltung verzichtet oder verzichten gelassen wird - die droht in ihrer Gesamtheit einzurosten. Und wo Jugend nicht vorkommt, dort muss sich anschließend niemand über grassierende Verdrossenheit, welcher Art auch immer, wundern.
Wallonisch

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